Der Begriff »Rhythmus« leitet sich vom griechischen rheein – fließen ab. Fließen ist nicht ein Vorgang in mechanischem Gleichmaß: Im Fließen äußert sich vielmehr das Phänomen einer Stetigkeit und Lebendigkeit, wie wir sie am Wasser erleben können. Ein fließendes Gewässer schwingt. In rhythmischer Gestaltung offenbaren sich gegensätzlich wirkende Kräfte. Erst zwischen Polaritäten kann Rhythmus entstehen.
Rudolf Steiner war der erste, der von einem Rhythmischen System im Menschen sprach, das alle rhythmischen Prozesse im Organismus in sich fasst. Das Rhythmische System vermittelt als drittes Glied zwischen den Polaritäten des Nerven-Sinnes-Systems und des Stoffwechsel-Gliedmaßen-Systems. Dabei führt es in einer Art fortwährender Pendelbewegung die aufbauenden in die abbauenden Prozesse über: Leben entsteht dadurch, dass Gegensätze ineinander überführt werden. Das Hin- und Herschwingen im Rhythmischen System wird durch das abwechselnde Eingreifen und das Sich-wieder-voneinander-Lösen der oberen und der unteren Wesensglieder bewirkt. Anschaulich zeigt sich das am Rhythmus von Ein- und Ausatmung und am polarischen Gegensatz von arteriellem und venösem Blutprozess.
Der innere Arzt
Das Rhythmische System ist der innere Therapeut, der die vereinseitigenden Einflüsse der Polaritäten im menschlichen Organismus ausgleicht: »Das ganze rhythmische System ist ein Arzt« (Rudolf Steiner). Zugespitzt formuliert er in einem Vortrag für Lehrer: »Alles Gehen, Greifen, Ernähren ist fortwährendes Kranksein – Atmung und Blutzirkulation ist fortwährendes Heilen« (GA 302a). Die Atmungs- und Zirkulationsrhythmen halten die Kräfte des Nerven-Sinnes-Systems und des Stoffwechsel-Gliedmaßen-Systems auseinander. Ein »Durchbrechen« der oberen oder der unteren Kräfte ist gleichbedeutend mit Krankheit –wer ein »rhythmisches Zwerchfell« hat, bleibt dagegen gesund.
Rhythmusstörungen schaden dem Immunsystem
Störungen grundlegender Rhythmen wie des Schlaf-Wach-Rhythmus, beeinträchtigen die Gesundheit. Sie sind von entscheidender Bedeutung für das Immunsystem und dessen Fähigkeit zur Stressbewältigung. Wesentliche Immunreaktionen, besonders auch Reaktionen auf Stresseinflüsse, werden über die HPA-Achse, (Hypothalamus-Pituitary-Adrenal-Axis) gesteuert, die Verbindung des zentralen Nervensystems zu den immunologisch wichtigen Hormonen der Nebennieren und Keimdrüsen. Das heißt, auch Stresserlebnisse können entscheidend das Immunsystem schädigen, indem sie die inneren Rhythmen verschieben oder aufheben. Stresserlebnisse können schon mit der Geburt auftreten.
Der normale Geburtsverlauf erzeugt einen sogenannten fetalen Stress. Was häufig als Begründung für die vermeintlich schonende Variante einer Kaiserschnittentbindung ins Feld geführt wird, ist für das Immunsystem fatal. Der Geburtsstress hat tiefgreifende, sinnvolle Auswirkungen auf das Immunsystem des Neugeborenen, für Zellen wie für Drüsen. Der Einfluss der Geburt auf die Stabilisierung der HPA-Achse ist inzwischen gut erforscht: Die Geburt ist ein Ausgangspunkt für immunmodulierende Prozesse, die das Neugeborene vor Infekten schützen sollen.
Die normale Wehentätigkeit bringt den fetalen Organismus in einen entzündungsähnlichen Zustand, ablesbar an der vermehrten Aktivität weißer Blutkörperchen. Nach Kaiserschnittentbindung sinkt deren Zahl, sie leben kürzer und sind weniger aktivierbar. Auch die Serumkonzentrationen von immunrelevanten Hormonen wie Epinephrin, Norepinephrin, ACTH und Prolactin sind nach Kaiserschnittentbindung vermindert. Nach Kaiserschnittentbindungen müssen daher Immundefizite beim Neugeborenen hingenommen werden.
Kaiserschnittkinder bekommen häufiger Asthma
In den letzten Jahren wurde besonders der Zusammenhang der Geburt mit der Entwicklung eines Asthma bronchiale untersucht. In etlichen Einzelstudien und Metaanalysen wurde belegt, dass Kinder nach einer Kaiserschnittentbindung ein erhöhtes Allergie- und Asthma-Risiko haben. Das könnte daran liegen, dass dem Säugling der Kontakt mit den Bakterien und Pilzen in der Scheide seiner Mutter fehlt, der das Immunsystem anregt. Darüberhinaus hängen das rhythmische Geburtsgeschehen und die immunologische Reifung eng zusammen. Fehlt der Wehen-Rhythmus während der Geburt, so beeinträchtigt das die Immunentwicklung. Es fehlen wichtige Impulse für die rhythmischen Immunfunktionen. Ebenso wichtig ist, dass Stress von außen unter der Geburt (Saugglocke) oder nach der Entbindung die nervliche und hormonelle Regulation stören und ebenfalls zu Immundefiziten führen kann.
Intensiv erforscht werden auch die psychosozialen Einflüsse auf die Asthmaentstehung. Es besteht ein Zusammenhang zwischen sozialen Belastungen, elterlichem Stress und Aggression, die in der Schwangerschaft erlebt werden und einer erhöhten Asthmaanfälligkeit der Neugeborenen. Studien zeigen, dass Kinder aus sozial belasteten Familien häufiger Asthma entwickeln. Wenn ein Kind abgelehnt, beschimpft und geschlagen wird, wächst – unabhängig von allen anderen klassischen Risikofaktoren und neben all den anderen seelischen Folgen – die Gefahr, dass es Asthma bekommt. Somit scheint beim Asthma auch die Störung sozialer Rhythmen eine Rolle zu spielen.
Gefährliche Morgenstunden
Beim Asthma verschiebt sich der Atemrhythmus zumeist in Richtung einer verlängerten Ausatmung. Für einen erhöhten Atemwegswiderstand werden Entzündungen und Allergien verantwortlich gemacht, die die Schleimhaut verändern. Wenn mehr Schleim abgesondert wird, sich das Sekret verändert, wenn sich die glatte Bronchialmuskulatur zusammenzieht und die Blutgefäße sich weiten, verengen sich die Luftwege. Schon seit langem ist bekannt, dass sich das Asthma oft während der Nacht verschlimmert. Auch bei diesem Phänomen ist ein gestörter innerer Rhythmus nachgewiesen und zum Thema vieler chronobiologischer Untersuchungen geworden. Sowohl die Stärke als auch die Häufigkeit von Asthmaanfällen und sogar das Sterberisiko sind im Tagesverlauf unterschiedlich verteilt, sie sind am größten in den frühen Morgenstunden. Eine Zunahme der Entzündungen und eine erhöhte Reizbarkeit der Atemwege sind für die nächtliche Verschlimmerung mitverantwortlich. Beide unterliegen einem 24-Stunden-Rhythmus und verstärken die Symptome zwischen 2.00 Uhr und 6.00 Uhr am Morgen. Als Ursache wird eine Störung im Rhythmus des Cortisol- und Melatonin-Spiegels (Hormone, die die Stoffwechselvorgänge sowie den Tag- und Nachrhythmus steuern) vermutet.
Vorbeugen und Heilen
Gunther Hildebrandt prägte bereits in den 1990er Jahren den Begriff der »Chronohygiene«. Neben einer rhythmischen Lebensweise, die Schlaf, Mahlzeiten, die Einhaltung des Wochenrhythmus, Erholungszeiten und eine innere Beziehung zum Jahreslauf in der Natur umfasst, wies er für unumgängliche Schichtarbeit auf ausreichende Abstände zwischen einzelnen Nachtschichten hin. Vereinzelte Nachtschichten mit ein- bis mehrtägigen Abständen untereinander verhindern die sonst eintretenden Phasenverschiebungen und eine Desynchronisation. Jahrelange Nachtschichtarbeit führt vielen Untersuchungen zufolge zu einem deutlich erhöhten Krebsrisiko. Viele medizinische Hinweise Steiners stützen sich auf Rhythmische Anwendungen. Ein den Ärzten vertrautes Beispiel ist seine Empfehlung zur Asthmatherapie. Werden Quercus und Veronica morgens oder abends gegeben, regt das den Rhythmus zwischen Ätherleib und Astralleib ganz im Sinne der »hin- und herpendelnden Kräfte« an. Rhythmuszentriert sind bekanntlich die künstlerischen Therapien innerhalb der Anthroposophischen Medizin. Jeder, der sich mit Heileurhythmie, dem Malen und Plastizieren, der Sprachgestaltung oder der rhythmischen Massage und Musiktherapie beschäftigt hat, weiß wie diese auf körpereigene rhythmische Prozesse wirken.
Verdichten und Lösen ist ein Grundprinzip bei allen genannten Therapien und stellt im Grunde das Zentrum der therapeutischen Arbeit am menschlichen Rhythmus dar. Wenn wir einen Krankheitsprozess als Rhythmusstörung verstehen können, dann ist das Wiederherstellen körpereigener Rhythmen, die zwischen dem Ätherischen und dem Astralischen schwingen, Ziel der Therapie. Dieser gesundende Pendelschlag wird heute auch als »Selbstregulation« bezeichnet.
Im Klassenzimmer muss Rhythmus herrschen
Beim Atmen sowie beim Schlafen und Wachen ist das Ineinanderspielen von Ätherleib und Astralleib unmittelbar zu erleben. Wir haben hier Urbilder des Rhythmus vor uns. Jede Störung dieser Rhythmen ist sofort offenkundig und offenkundig ist auch die Bedeutung dieser beiden Rhythmen für Gesundheit und Krankheit. Das regelmäßige Atmen des Neugeborenen signalisiert sein Wohlsein, der unregelmäßig werdende Atem des Sterbenden kündigt oft den letzten Atemzug an.
Von Atmen, Schlafen und Wachen in ihrem je eigenen Rhythmus hängt Gesundheit und Krankheit ab. Das macht den zunächst schwierig zu verstehenden Hinweis Steiners in der Vorträgen zur Allgemeinen Menschenkunde verständlich »die Erziehung wird darin bestehen müssen, richtig atmen zu lehren« – weil das Kind das noch nicht kann! Und weiter heißt es: »So wird zunächst alle Unterrichts- und Erziehungstätigkeit gelenkt auf ein recht hohes Gebiet, auf das Lernen des richtigen Atmens und auf das Lernen des richtigen Rhythmus im Abwechseln zwischen Schlafen und Wachen.« Es ist ein Grundstein der Waldorfpädagogik, am inneren Rhythmus des Kindes zu arbeiten. »Im Klassenzimmer soll Rhythmus herrschen«, diese Aufforderung an die ersten Lehrer der neugegründeten Waldorfschule war ein Aufruf zur Arbeit an der Gesundheit der Kinder. Erziehung als Krankheits-Prophylaxe entsteht durch das Aufrichten eines Rhythmus-Gerüstes, an dem sich die zentralen Rhythmen im Kind orientieren, wir könnten auch sagen »synchronisieren« können.
Daher wurde, wie Steiner in einem Spruch formulierte, »in alten Zeiten« Erziehen gleichgesetzt mit Heilen – weil es an dem Urrhythmus arbeitet, von dem alle Heilung ausgeht.
Der Rhythmus im Klassenzimmer beschränkt sich also nicht auf den sogenannten »Rhythmischen Teil« des Hauptunterrichtes oder auf die Eurythmie, das Handarbeiten, den Musikunterricht. Erziehen folgt denselben Gesetzen des Pendelschlags zwischen krankmachenden und gesundenden Einflüssen wie sie die menschliche Physiologie bestimmen. So wie der Stoffwechsel ständig im Menschen ausgeglichen werden muss, so verlangt auch die einseitige Beanspruchung des Kopfs im lernenden Kind nach einem Ausgleich. Das ist der tiefere Sinn der Forderung nach »Rhythmus im Klassenzimmer«. Unterrichten bedeutet, ständig um das Gleichgewicht im Kind bemüht sein. »Man betrachtet heute Gesundheit und Krankheit als Gegensätze, aber so ist die Sache gar nicht. Gesundheit und Krankheit stehen einander nicht polar gegenüber […] Gesundheit ist ein Gleichgewichtszustand, den wir uns fortwährend organisch bemühen zu erhalten.« Auf diesem Bemühen ist Methode und Didaktik der Waldorfpädagogik aufgebaut. Wer die vielen Hinweise Rudolf Steiners auf Krankheitsneigungen im späteren Leben durch Erziehungsfehler im Bewusstsein hat, und wer Krankheiten unter dem Aspekt von Rhythmusverlusten betrachtet, der kann die Bedeutung eines rhythmusgetragenen Unterrichts für die Gesundheit des Kindes erahnen.