Unfälle und Verletzungen sind immer möglich, auch an der Schule, im Unterricht. Versicherungen und Krankenkassen drängen zu Recht auf maximale Verminderung von Risiken. Doch wer sich nicht auf unsicheres Gelände wagt, wird auch nie die Erfahrungen machen, durch die er zum Meister werden kann.
Eine Handvoll junger Menschen soll beim Bau einer einfachen Holztruhe die wichtigsten traditionellen Holzverbindungsarten erlernen. Jeder hat seine Bretter vor sich auf der Werkbank liegen und ist in die Arbeit mit dem Stechbeitel, dem Handhobel oder der Feinsäge vertieft. In diese konzentrierte Schaffensstimmung hinein kommt der Haustechniker und die Geister scheiden sich: Der Lehrer hat die Entwicklung der anfänglich völlig ungeübten jungen Menschen im Blick und freut sich über den inzwischen sicher gewordenen Umgang mit den scharfen Werkzeugen. Er weiß, dass nur präzise geschärfte Schneiden eine gute Arbeit leisten. Niemand hat sich bisher ernsthaft verletzt und die anfängliche Scheu der jungen Leute ist einer beginnenden Sicherheit gewichen. Er weiß sie auf dem richtigen Wege und ist genauso zufrieden wie die Arbeitenden.
Der Haustechniker ist jedoch gleichzeitig auch Sicherheitsbeauftragter. Er ist entsetzt über die modische Kleidung der jungen Frauen: Wo ist die Arbeitskleidung? Auch die offenen Haare scheinen für ihn ein offensichtliches Gefahrenpotenzial darzustellen. Des weiteren vermisst er Sicherheitsschuhe und ganz besonders misstrauisch ist er der in der Ecke stehenden Hobelmaschine gegenüber: Es ist kein Warnschild angebracht und eine Benutzungsanweisung fehlt. Auch fragt er, ob die jungen Leute schon eine Maschinen-Einweisung bekommen hätten. Denn seiner Meinung nach müsste schon auf Grund der Tatsache, dass sie im Raum steht, jeder eine Unterweisung darüber bekommen, wo eventuelle Gefahrenpotenziale steckten. Und das unabhängig davon, ob sie im Unterricht von den Schülern benutzt würde oder nicht.
Es begegnen sich zwei völlig unterschiedliche Sichtweisen, zwei entgegengesetzte Standpunkte: Der Sicherheitsbeauftragte hat sich in Lehrgängen, Kursen und Ausbildungen mit der Möglichkeit der Unfallverhütung befasst. Er kennt die neuesten Vorschriften auf diesem Gebiet und er hat von schlimmsten Unfällen gehört, gelesen und sie zum Teil auch in Filmen während der Kurse »hautnah« miterlebt. Und seine vom Gesetzgeber vorgeschriebene Aufgabe ist es, für die Einhaltung der Sicherheitsbestimmungen zu sorgen. Er sieht die Welt als einziges Gefahrenpotenzial und durch die »Unfall-Verhütungs-Brille«. Pädagogische Fragen, wie das Lernen durch das Tun, sind für ihn sekundär.
Der Lehrer jedoch weiß, dass man am ehesten durch das eigene Leben und Erleben lernt. Alle neuen Fähigkeiten müssen erst im Tun geübt werden. Sei es, ob man einen Führerschein macht, Yoga lernt, einen eigenen Computer oder scharfe Stechbeitel sicher benutzen will.
Zunächst ist man ein ungeschickter Stümper, aber dann entwickelt sich mit steter Übung eine gewisse Sicherheit. Diese ersten Schritte brauchen Mut. Sie benötigen das Überwinden alter Strukturen, eingefahrener Bewegungsmuster. Sie fordern immer wieder neu heraus und bringen uns manchmal an unsere Grenzen. Denn wir machen zu Anfang ständig Fehler: War rechts die Bremse oder die Kupplung? Ist die Parklücke zu eng oder passt sie? Drücke ich bei Gelb an der Ampel sofort auf die Bremse oder muss ich gerade noch durchfahren? Ungewohnte Bewegungen beim Yoga können einen Hexenschuss verursachen.
Und wem ist nicht bei seinen Anfangsbemühungen die ganze eben so mühselig angelegte Datei in den Tiefen des Computers auf Nimmerwiedersehen verschwunden? Auch bei den Schülern geht es nicht ohne falsch abgesägte Ecken und verkehrt einge- stemmte Zwischenräume. Gewiss, vor dem Beginn einer neuen Tätigkeit braucht es eine gute Einweisung. Die jungen Leute nehmen auch nicht einfach den Hobel in die Hand und legen los. Der Gebrauch wird ihnen vorgemacht, sie bekommen das Nötigste erklärt, damit sie mit dem Arbeiten anfangen können. Schritt für Schritt werden sie an das eigene Tun herangeführt. Ja, es wird ihnen selbstverständlich auch gezeigt, wie sie mögliche Verletzungen umgehen können. Dann, beim Arbeiten bemerken sie ihre eigenen Fehler, sie können Fragen stellen und sich während des Prozesses mit Hilfe der Begleitung laufend korrigieren.
Das Ganze ist jedoch so angelegt, dass der Lernprozess im Mittelpunkt steht. Es wird Mut gemacht, kräftig zuzupacken, innere Scheu zu überwinden und die ganze Aufmerksamkeit auf den gerade erlernten Vorgang zu lenken. Denn ein Hobel hobelt nur, wenn man ihn mit ganzer Kraft vorwärtsstößt und ein Fahrrad fährt nur, wenn man eine ausreichende Geschwindigkeit hat. Damit riskiert man einen Sturz oder ein schräg gehobeltes Brett oder sogar eine Schnittwunde am Finger. Es fordert die Überwindung von Angst, von Hemmung. Genau betrachtet schließt ein solches Lernen die Möglichkeit des Scheiterns mit ein. Es rechnet mit Fehlern, Fehlern, aus denen man lernen kann.
Oft wird einem der Prozess, in dem man sich befindet, ja erst durch das Misslingen klar und man kann sich dadurch korrigieren.
Mut zum Fehler
Ein derartiger pädagogischer Ansatz hat im Grunde genommen die Aufgabe, Fehler, wenn nicht zu provozieren, so doch zuzulassen. Denn der Lehrer ist auf die Fehler seiner Schüler angewiesen. Er macht vor, erklärt und lässt dann üben. Dabei kann er hilfreich auf die jeweilige Situation eingehen und korrigierend einschreiten. Ein Lehrer befindet sich deshalb besonders in unserer heutigen Zeit in einem großen Zwiespalt. Einerseits braucht er, wenn er wirklich persönlichkeitsbildend auf seine Schüler eingehen will, eine ziemlich große Risikobereitschaft. Andererseits muss er sich nach den Unfall-Verhütungs-Vorschriften richten. Diese Risikobereitschaft ist in unseren Zeiten rapide zurückgegangen. Welcher Erwachsene hält es denn heute noch aus, wenn jemand ohne Sicherungsseil in einen Baum klettert? Wer kann ohne Schaudern zusehen, wenn Kinder oder sogar Jugendliche mit dem Messer hantieren? Wer sieht nicht beim Entfachen eines Lagerfeuers gleich ein Haus abbrennen? Und wer findet es normal, wenn jemand weit auf einen See hinaus schwimmt oder ein anderer sich mit einem kleinen Schiff weit aufs Meer hinauswagt?
Viele fragen sofort: Wer ist verantwortlich? Wer haftet, wenn etwas passiert? Die auch heute noch wirksame Methode »learning by doing« kommt immer weniger Erwachsenen in den Sinn. Lernmöglichkeiten, die noch vor kurzer Zeit ganz selbstverständlich waren, erscheinen vielen Menschen in unserer Zeit undenkbar.
Wenn Krankenkassen und Versicherungen das Lernen bestimmen
Lehrer, Eltern und die Gemeinschaft bestimmen gemeinsam den Weg. Aber vor Ort ist der Lehrer auf sich allein gestellt. Er muss sich überlegen, welche Qualitäten er für wichtig hält und was er zu geben bereit ist. Und an dieser Stelle kommen interessanterweise die Krankenkassen und Versicherungen ins Spiel. Denn in den letzten Jahren haben sich nicht nur das Lernumfeld und die Lebensbedingungen verändert. Es hat auch eine gravierende Veränderung durch diese beiden Institutionen gegeben. Beide scheinen auf den ersten Blick ja zum Wohl der Menschen zu wirken, indem sie Risiken für den Einzelnen verkleinern. Durch die Frage nach der Haftung, also die Frage, wer für was zu bezahlen hat, zwingen sie dem Lehrer ein Verhalten auf, das sich nicht mehr am pädagogisch sinnvollen Handeln, sondern an Absicherung orientiert.
Sowohl die Versicherungen als auch die Krankenkassen wollen Geld verdienen. Und aus dem Grund müssen sie sich vor unnötigen Zahlungen schützen. Sie machen also eine Risikoeinschätzung, durch die sie die Versicherungsquote errechnen können. Diese soll ermöglichen, dass mit möglichst wenig Risiko möglichst viel Geld verdient werden kann. Das ist nicht im Entferntesten etwas, was mit Lernen zu tun hat. Der ernsthafte Lehrer aber sucht nach den Möglichkeiten, an denen die wichtig erscheinenden Schlüsselfunktionen erlernt werden können. Er beurteilt das Risiko, das erforderlich ist, nach pädagogischen Gesichtspunkten. Der Werklehrer vermittelt überlieferte Handwerkstechniken. Seit Generationen geübte Fertigkeiten sollen erlernt und geübt werden. Dabei wird Fingerfertigkeit, Körpergefühl, Bewegungskoordination und technisches Verständnis ebenso angelegt, wie moralische Verantwortung – für das von mir schräg abgesägte Brett bin ich verantwortlich – oder das Arbeiten im Team bei größeren Projekten, um nur einige Qualitäten zu nennen.
Im Hintergrund weiß er jedoch auch um die prägende Kraft bei der Persönlichkeitsbildung des Heranwachsenden. Er will keinen Gesellen hervorbringen. Er nutzt vielmehr die Qualitäten, die in dieser manuellen Tätigkeit liegen, um den jungen Menschen »auf den richtigen Weg« zu bringen.
Eine Vorschrift, die in einem handwerklichen Ausbildungsbetrieb sinnvoll erscheinen mag, wie Arbeitskleidung oder Schutzschuhe, ist hier fehl am Platz, vielleicht sogar kontraproduktiv. Was wir brauchen, ist demnach nicht eine immer enger werdende Verhütungsvorschrift, sondern eine gesunde Eigeneinschätzung der wirklichen Gefahren. Und wir brauchen einen Wechsel in der Sicht auf die Dinge. Stellen wir die Wichtigkeit des Lernens in den Mittelpunkt, gelangen wir zu anderen Einschätzungen, als wenn wir das Missgeschick oder die anschließende Haftung in den Fokus rücken.
Das bedeutet nämlich nicht, dass irgendein Risiko unnötig oder sogar gewollt eingegangen wird, um einen Lerneffekt zu erzielen. Immer gilt der Grundsatz, ein Unglück zu vermeiden und höchste Achtsamkeit für die sensiblen Punkte einer Tätigkeit zu üben. Aber wer nicht einmal auf dem Glatteis ausgerutscht ist, wird nur wenig Respekt vor einer vereisten Treppe haben und der Respekt vor der Spitze einer Nadel ist sicher größer, wenn man sich einmal gestochen hat.
Zu wünschen wäre, dass die in den letzten Jahren zu beobachtende Polarisierung zwischen den Zielen der Versicherungen, Krankenkassen und Sicherheitsbeauftragten und denen der pädagogischen Einrichtungen überwunden wird. Überwunden werden kann dieser Gegensatz aber nur, wenn es zu einer neuen Gewichtung der jeweiligen Interessenslage kommt. Von pädagogischer Seite gilt es, die wirklich notwendigen Vorschriften zur Verhinderung von Unglücken zu respektieren und umzusetzen. Die Haftungs- und Verhütungsinstitutionen müssen auf der anderen Seite ein neues Augenmaß für die Bedeutung des Lernens aus Fehlern entwickeln. Wir brauchen wieder einen klaren Blick dafür, welche Schlüssel-Qualifikationen und Basisfertigkeiten im gesellschaftlichen Kontext sozusagen von allein gelernt werden können und welche wir als ein sonst verschwindendes Gut in unseren Fokus nehmen wollen oder gar müssen.
Durch einen Blickwechsel weg von der starren Suche nach »Haftung und Unfallverhütung« hin zur »gesunden Selbsteinschätzung« könnte ein für alle zukunftsträchtiger Ansatz wiederentdeckt werden.
Das wird allerdings nur funktionieren, wenn sowohl Versicherungsträger und Eltern als auch Lehrer in einen Austausch kommen. Erst dann kann das alte Prinzip des »Lernens aus Fehlern« wieder seinen angestammten Platz zurückerhalten. ‹›
Zum Autor: Helmut Hinrichsen (Foto oben) ist Dozent am Lehrerseminar Kiel und an der Alanus Hochschule. Er war 26 Jahre Handwerks- und Biologielehrer an der Kieler Waldorfschule. Er ist Autor der »Pubertätssprechstunde« und 15 Jahre Jugendfahrten als Skipper auf dem Segelschulschiff »Alte Liebe«.