So lapidar beantwortete Rudolf Steiner die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Waldorfpädagogik und sozialer Dreigliederung. Hundert Jahre später erscheint diese Aussage rätselhaft – haben doch einerseits die Waldorfschulen eine enorme Verbreitung gefunden, während andererseits die Bewegung für soziale Dreigliederung im Sande verlief.
Der Großteil des sozialwissenschaftlichen Werkes ist mittlerweile öffentlich zugänglich, sodass wir den Sinn solcher Aussagen rekonstruieren können. Steiner verband demnach die Waldorfschulbewegung mit einer Neugestaltung des gesamten gesellschaftlichen Lebens. Als wesentliches Merkmal aller zu überwindenden Systeme macht er die Gleichsetzung von Rechts-, Wirtschafts- und Kulturgemeinschaft im Nationalstaat aus. Diesem »Einheitsstaat« stellt er das Bild eines dreigliedrigen sozialen Organismus gegenüber, in welchem Rechts-, Wirtschafts- und Kulturbeziehungen unabhängig von nationalen Grenzen drei selbständige Verwaltungsorgane ausbilden.
Die primäre gesellschaftspolitische Aufgabe der Waldorfschulbewegung sei es, international auf eine Loslösung des gesamten Bildungswesens, einschließlich der Universitäten, von staatlicher oder wirtschaftlicher Beeinflussung hinzuwirken: »Man müsste wirklich einmal das Unterrichtswesen auf die eigene Basis stellen und es von denjenigen bloß verwalten lassen, die darinstehen. ... Also, das Schulwesen muss zunächst ganz getrennt vom Staatswesen gedacht werden. Es ist ganz ausgeschlossen, dass wir weiterkommen, wenn wir uns nicht zu diesem radikalen Denken aufschwingen, die Schule, ja das ganze Bildungswesen herauszubringen aus dem Staat.« Unmissverständlich fordert er von Waldorfpädagogen und Waldorfeltern ein öffentliches Eintreten für eine solche Dreigliederung: »Wenn diejenigen, die schwärmen für die Ideen der Waldorfschule, nicht einmal soviel Verständnis entwickeln, dass ja dazu gehört, Propaganda zu machen gegen die Abhängigkeit der Schule vom Staat ..., dann ist die ganze Waldorfschul-Bewegung für die Katz, denn sie hat nur einen Sinn, wenn sie hineinwächst in ein freies Geistesleben.«
Zugleich erscheint diese gesellschaftliche Aufgabe der Waldorfschulbewegung als Bedingung für die eigene Existenz: »Eine solche (Schul-)Gemeinschaft ist nur möglich in dem dreigliedrigen sozialen Organismus, der ein freies Geistesleben neben einem demokratisch orientierten Staats- und einem selbstständigen Wirtschaftsleben hat. Ein Geistesleben, das seine Direktiven von der politischen Verwaltung oder von den Mächten des Wirtschaftslebens erhält, kann nicht eine Schule in seinem Schoße pflegen, deren Impulse von der Lehrerschaft selbst restlos ausgehen.«
Vorsicht vor Waldorf light
Steiner warnt vor einer Light-Version der Waldorfpädagogik, welche glaubt, ohne eine soziale Dreigliederung auskommen zu können: »Denn ... darauf kommt es an, dass man das Prinzip verfolgt auf diesem Gebiet: Freiheit im Geistesleben. – Dann ist mit einer solchen Schule ein Anfang der Dreigliederung gemacht. Rufen Sie daher in den Leuten nicht falsche Vorstellungen hervor, indem Sie ihnen den Glauben beibringen, man könne brav in den alten Verhältnissen bleiben und trotzdem Waldorfschulen gründen.«
Dabei wird Steiner sehr konkret. Eine wesentliche Voraussetzung sei nämlich, dass nicht »nur solche Lehrer verwendet werden dürfen, die durch die staatlichen Prüfungen gegangen und abgestempelt sind«. Denn: »Man müsste ja davon ausgehen, dass man zunächst eine vollständig freie Wahl der Lehrer hat, die ja nicht ausschließt, dass auch einmal ein staatlich abgestempelter Lehrer gebraucht werden kann. Aber es dürfte nicht die Notwendigkeit vorliegen, dass nur solche verwendet werden dürfen, denn sonst stehen wir nicht in der Dreigliederung drinnen.«
Grundsätzlich bemerkt Steiner: »Solange das Geistesleben auf der einen Seite vom Wirtschaftsleben, auf der anderen Seite vom Staatsleben abhängig ist, so lange steht der Lehrer im Banne des Staates oder des Wirtschaftslebens.«
Das uns anvertraute Kind kann uns sensibel machen für jenen »Bann«. Ernsthaft um eine kindgemäße Erziehung ringen und sich gesamtgesellschaftlich um eine soziale Dreigliederung bemühen, geht naturgemäß Hand in Hand, ja es ist dasselbe, nur von zwei Seiten betrachtet:
»Dieses immer fort und fort aus dem lebendigen geistigen Quell Herausschöpfen, das ist das, was unseren Lehrern eigen sein soll. Da muss man sich dem geistigen Leben gegenüber verantwortlich fühlen. Dann muss man das geistige Leben frei wissen, dann muss die Schule Selbstverwaltung haben, dann darf nicht der Lehrer ein Beamter sein; er muss vollständig sein eigener Herr sein; denn er erkennt einen erhabeneren Herren an als eine äußere Instanz, das geistige Leben selber, zu dem er in einer unmittelbaren Beziehung steht, nicht durch Schulbehörden, durch Rektoren oder Schulinspektoren oder Oberschulräte, Studienräte und so weiter hindurch.
Ein wirklich freies Schulleben hat dieses direkte Inbeziehungstehen zu den Quellen des geistigen Lebens notwendig. Denn nur wenn man dieses in sich hat, kann man auch den geistigen Quell im Schulzimmer den Kindern vermitteln. Das streben wir immer mehr und mehr an, das wollen wir.«
Hinweis: Zitate aus: Johannes Mosmann (Hrsg.): Rudolf Steiner – Was ist eine freie Schule?, Berlin 2015. Bestellbar unter www.dreigliederung.de/shop
Zum Autor: Johannes Mosmann ist Mitbegründer des Instituts für soziale Dreigliederung und Geschäftsführer der Freien Interkulturellen Waldorfschule Berlin.