Freiheit des Geisteslebens und Selbstverwaltung
»Frei« hieß für Steiner selbstverwaltet. Das Prinzip der Selbstverwaltung erscheint im Rahmen der Dreigliederung als konstitutive Leitidee, ohne detailliertere Ausarbeitungen und konkrete Umsetzungsvorschläge. Am prägnantesten bringt Steiner den Selbstverwaltungsgedanken in seiner Schrift »Die Kernpunkte der sozialen Frage« auf den Punkt:
»Innerhalb des Staatsgefüges ist das Geistesleben zur Freiheit herangewachsen; es kann in dieser Freiheit nicht richtig leben, wenn ihm nicht die volle Selbstverwaltung gegeben wird. Das Geistesleben fordert durch das Wesen, das es angenommen hat, dass es ein völlig selbständiges Glied des sozialen Organismus bilde. Das Erziehungs- und Unterrichtswesen, aus dem ja doch alles geistige Leben herauswächst, muss in die Verwaltung derer gestellt werden, die erziehen und unterrichten. In diese Verwaltung soll nichts hineinreden oder hineinregieren, was im Staate oder in der Wirtschaft tätig ist. Jeder Unterrichtende hat für das Unterrichten nur so viel Zeit aufzuwenden, dass er auch noch ein Verwaltender auf seinem Gebiete sein kann. Er wird dadurch die Verwaltung so besorgen, wie er die Erziehung und den Unterricht selbst besorgt. Niemand gibt Vorschriften, der nicht gleichzeitig selbst im lebendigen Unterrichten und Erziehen drinnen steht. Kein Parlament, keine Persönlichkeit, die vielleicht einmal unterrichtet hat, aber dies nicht mehr selbst tut, sprechen mit. Was im Unterricht ganz unmittelbar erfahren wird, das fließt auch in die Verwaltung ein.«1
Nicht unwesentlich erscheint vor diesem Hintergrund, dass sich alle zum vorbereitenden Lehrer:innenkurs eingeladenen Gäste und potenziellen Lehrer:innen in der Bewegung für soziale Erneuerung bzw. in der Kampagne zur sozialen Dreigliederung engagierten.
Die Lehrer:innenkonferenz als das zentrale Organ der Selbstverwaltung
Von Beginn an war die wöchentliche Lehrer:innenkonferenz das wichtigste Organ der selbstverwalteten Schulführung. Sie diente dem Austausch über vergangene und künftige Schulveranstaltungen, über Erfahrungen und Erlebnisse im Unterricht, der Beratung neuer Entwürfe und Pläne. Und sie war der Ort der Entscheidungen. Zugleich diente sie als »fortlaufende lebendige Hochschule«, als »fortdauernde[s] Seminar«2 der Weiterbildung, der persönlichen und menschlichen Weiterentwicklung und Vervollkommnung. »Jeder soll über das, was ihn besonders beschäftigt, der anderen Lehrerschaft vortragen, sodass das, was der Einzelne sich erarbeitet, den anderen zugutekommt.«3
Die Lehrer:innenkonferenz ist das entscheidende Instrument der kollegialen, demokratisch-republikanischen Schulführung. »Konferenzen sind freie republikanische Unterredungen. Jeder ist darin ein Souverän«4. Eine von der Autorität des Staates und der Kirche unabhängige Schule, die sich dem Prinzip des freien Individuums verpflichtet fühlt, kann kein Direktorat, auch nicht eine übergeordnete Beamtenhierarchie akzeptieren, ein System, in dem eine Person alle wesentlichen Entscheidungen trifft.
»Das wird nur zu erreichen sein, wenn jeder seine volle Persönlichkeit einsetzt. [...] Deshalb werden wir die Schule nicht regierungsgemäß, sondern verwaltungsgemäß einrichten und sie republikanisch verwalten. In einer wirklichen LehrerRepublik werden wir nicht hinter uns haben Ruhekissen, Verordnungen, die vom Rektorat kommen, sondern wir müssen hineintragen dasjenige, [...] was jedem von uns die volle Verantwortung gibt für das, was wir zu tun haben. Jeder muss selbst voll verantwortlich sein«.5
Der einende Geist der Waldorfschule
Durch die Mitwirkung aller Beteiligten an der Entstehung von Entscheidungen droht selbstverständlich die Gefahr von Konflikten und es stellt sich die Frage, wodurch die notwendige Einheitlichkeit des Schulorganismus gewährleistet werden kann. Gerade da, wo es sich nicht nur um einen informellen Austausch handelt, sondern wo wichtige Entscheidungen getroffen und gemeinsame Haltungen und Handlungen beschlossen werden müssen, geht es um die Einheitlichkeit in einer tiefer liegenden Schicht: der Willensebene aller Beteiligten. In diesem Zusammenhang setzte Rudolf Steiner bei den Kolleg:innen auf die intensive Kenntnis der Anthroposophie. Deshalb war eine existenzielle Verbundenheit mit der Anthroposophie immer ein klares Kriterium bei der Auswahl der künftigen Lehrer:innen. Auch fasste er die Inhalte des Lehrer:innenkurses als ein Mittel auf, das bis in die Region der Willensentschlüsse Menschen erfassen kann. »Ersatz für eine Rektoratsleitung wird geschaffen werden können dadurch, dass wir diesen Vorbereitungskurs einrichten und hier dasjenige arbeitend aufnehmen, was die Schule zu einer Einheit macht. Wir werden uns das Einheitliche erarbeiten durch den Kurs, wenn wir recht ernstlich arbeiten«.6 Bereits im Frühjahr 1920 sprach er von der fortlaufenden Beschäftigung der Lehrer:innen mit den Texten des Kurses.7 Die gemeinsame Erarbeitung der Inhalte gebe der Waldorfschule »den Geist«, der eint.8
Voraussetzung für das Gelingen von Selbstverwaltung war für Steiner die gegenseitige Wahrnehmung der Kolleg:innen. Alle sollten Gelegenheit bekommen, das zu beschreiben, was sie geistig interessierte, womit sie sich wissenschaftlich oder künstlerisch beschäftigten.
»… [E]s belebt das ganze Lehrerkollegium, wenn ein richtiges Interesse genommen wird an Originalarbeiten der Mitglieder des Lehrerkollegiums… Das ist tatsächlich so, dass spirituelle Kräfte, die im Lehrerkollegium sind, das Lehrerkollegium tragen durch die Gegenseitigkeit des innerlichen wissenschaftlichen Erlebens.«9
Eine Kultur des gegenseitigen Interesses, des wohlwollenden Zuhörens und aktiven Dialogs war für ihn selbstverständlich.
Die Lehrer:innenkonferenz wird also durch verschiedene Elemente zum konzentrierenden »Herz«, zur belebenden »Seele« der Schule. Sie fördert eine geistige Gemeinschaft der Lehrer:innen-Persönlichkeiten, durch die sich komplizierte Verwaltungsstrukturen erübrigen. Es geht um die Pflege von Vertrauen zueinander und Verbundenheit untereinander.
Die Funktionen in der Schulführung: Rudolf Steiner – Emil Molt – Karl Stockmeyer
Natürlich war die charismatische Persönlichkeit und Autorität des pädagogischen Schulleiters Rudolf Steiner in den ersten Jahren das integrierende Element. Was er sagte, wurde befolgt und umgesetzt. Er arbeitete während der ersten Schuljahre offensichtlich darauf hin, das bisher weitgehend unbekannte Prinzip der Selbstverwaltung und kollegialen Schulführung unter seiner Begleitung einzuüben, sodass das Kollegium tatsächlich immer mehr von seiner Person unabhängig werden konnte. Zu Beginn bestimmte er die personelle Zusammensetzung des Kollegiums im Alleingang. Später wurde die Anstellung der vielen neuen Kolleg:innen regelmäßig im Kollegium besprochen. Auch die Freiheit in der Gestaltung des Lehrplans und der Unterrichtsmethoden war ihm wichtig. Er forderte die Lehrer:innen auf: »Ich bitte sich jetzt zu äußern, frank und frei, was Sie darüber meinen, jeder, der etwas zu sagen hat. Selbst wenn jemand etwas zu sagen hat, von dem er glaubt, dass es im weitesten Umfang missfallen könnte, bitte ich, auch diese Sache vorzubringen«.10
Der Schulgründer Emil Molt trug ursprünglich die volle finanzielle Verantwortung. Er stellte in den ersten beiden Schuljahren alle Lehrer:innen in seiner Firma Waldorf-Astoria an und fühlte sich zuerst als vollgültiges Mitglied des Kollegiums, obwohl er keine Unterrichtsverpflichtungen hatte. Das führte zu Irritationen und Rudolf Steiner musste sogar im Herbst 1920 als eine Art Mediator zwischen Molt und dem Lehrerkollegium fungieren. Danach nahm Molt die bescheidenere Rolle des »Beraters in finanziellen Fragen« an und hat sich nicht nur in die Entscheidungsprozesse der Schule nicht mehr eingemischt, sondern den Schulbetrieb durchgehend selbstlos und opferbereit materiell unterstützt. Im Frühjahr 1920 wurde der Waldorfschulverein gegründet, wodurch die klassische organisatorische Form der Schule entstanden ist.
Vor allem in den ersten Jahren konnte sich die Schule auf Karl Stockmeyer stützen, der initiativ und mit außerordentlicher Gewissenhaftigkeit sich die Verwaltung der Schule zur Aufgabe machte.
Auf ihn beziehen sich die Sätze in einem Vortrag Rudolf Steiners: »Da ist gleich eingangs die Frage aufgetaucht: Wer wird der Direktor sein? – Selbstverständlich niemand; wir haben einfach gleichberechtigte Lehrer durch alle Klassen, und einer aus dieser Lehrerschaft, der etwas weniger Stunden hat als die anderen, der besorgt die Verwaltungsdinge.«11 Stockmeyer hat sich der praktisch-organisatorischen Seite der Schulgründung zur Verfügung gestellt: Kontakt mit den Behörden und Kirchenvertretern, Stundenpläne, Vertretungsorganisation, Bauarbeiten, Mobiliar, Lehrmittel, Zeugnisausstellung, Kontakt- und Informationsvermittlung zu Steiner, Organisation seiner Vorträge und Kurse an der Schule und vieles andere mehr. Über sein Verständnis von Schulführung schrieb Stockmeyer:
»Damit gewinnt natürlich dasjenige, was man von einem Schulleiter sonst eben erwarten möchte, eine ganz andere Bedeutung. Seine Aufgabe kann [...] nicht mehr die sein, eine gewisse Homogenität des Unterrichtens dadurch herbeizuführen, dass er in einer gewissen diktatorischen Weise gewisse Grundsätze durchdrückt. Sondern seine Aufgabe kann nur darin bestehen, Verwaltungsperson zu sein, und, was natürlich bedeutend wichtiger ist: sich verantwortlich fühlen, dass alles das, was vor allen Dingen von außen her an die Schule herantritt an Anfechtungen, an Gefahren, in entsprechender Weise aufgegriffen wird, dass dem in entsprechender Weise begegnet werden kann.«12
Es könnte sein, dass das Kollegium seine Rolle als Exekutivorgan des kollegialen Willens nicht richtig wahrgenommen hat, wodurch er in eine gewisse Isolation geriet, die von den Kolleg:innen als Eigenmächtigkeit interpretiert wurde – eine bis heute bekannte soziale Figur. Dass das Wunder der Schulgründung organisatorisch glückte und die Schule in den wirtschaftlich schwersten Jahren 1922/23 überlebte, war jedenfalls Stockmeyer zu verdanken.
So war es wohl die besondere Aufgabe der ersten Waldorfschule, sich in die selbstverwaltete Führungsform einzuleben. Das Lehrerkollegium konnte die ungewohnte »Verwaltung« durch seine Hingabe an die Leitung Rudolf Steiners nachvollziehen und in einer außerordentlich stark empfundenen Mitverantwortung für das Gelingen der Initiative als »Gemeinschaft freier Geister« einüben.
Anmerkungen: 1 Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft. Dornach 1976, Gesamtausgabe (GA) 23, S. 10f. | 2 Ders.: Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung. Dornach 1991, GA 307, S. 241. | 3 Ders.: Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule 1919 bis 1924. Dornach 2019. GA 300a, S. 47f. | 4 Ders.: Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule 1919 bis 1924. Dornach 2019. GA 300a, S. 47f. GA 300a, S. 25. | 5 Ders.: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. Dornach 1991, GA 293, S. 14. | 6 Ders.: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. Dornach 1991, GA 293, S. 14. | 7 Ders.: Die Erneuerung der pädagogischdidaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft. Dornach 1991, GA 301, S. 64. | 8 Ders.: Anthroposophie, soziale Dreigliederung und Redekunst. Dornach 1984, GA 339, S. 42. | 9 Ders.: Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule 1919 bis 1924. Dornach 2019, GA 300b, S. 60. | 10 Ders.: Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule 1919 bis 1924. Dornach 2019, GA 300b, S. 347. | 11 Ders.: Vom Einheitsstaat zum dreigliedrigen sozialen Organismus. Dornach 1983. GA 334, S. 163. | 12 Karl Stockmeyer: Ansprache bei der Eröffnungsfeier der Freien Waldorfschule am 7.9. 1919. Unveröffentlicht. Rudolf Steiner Archiv.
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