Im grossen Bühnensaal der Rudolf-Steiner-Schule in Wuppertal saßen am Sonntagvormittag etwas über zwanzig Menschen in einem Kreis und schauten auf die verbrachten Tage zurück mit Pädagog:innen, Sprachgestalter:innen und den Tagungsverantwortlichen. Es herrschte eine eindrückliche Atmosphäre gewachsener Vertrautheit, eine Atmosphäre der Wärme und Dankbarkeit.
Die Inhalte der Vorträge wurden gewürdigt, die Möglichkeiten der Begegnung in den Arbeitsgruppen, der Austausch bei den Mahlzeiten und in den Pausen. Dabei wurde als Wunsch für die Zukunft auch deutlich geäussert, dass gerade Begegnung und Austausch in der Tagungsstruktur mehr Raum haben sollten.
Bei diesem Tagungsausklang wurde erlebbar, wie die Sprache – gemeinschaftlich in Verantwortung und mit Liebe beleuchtet, bewegt, gesprochen – ihre beglückende und Menschen verbindende Kraft entfalten kann.
Sprache, Theater: Darstellungen aus den Arbeitsgruppen
Ein freudiger und erwartungsvoller Moment war die gegenseitige Wahrnehmung der verschiedenen Arbeitsgruppen am Samstagabend. Was in vier Übungseinheiten erarbeitet wurde, wird hier exemplarisch wiedergegeben. Im Workshop Präsenz in und durch die Sprache in der Oberstufe war eines der Motive durch das Sprechen und Erleben objektiver Sprachelemente wie Laute, Silben, Rhythmen einen Zugang zu Gedichten und zum eigenen Schreiben zu finden. So, wie es zum Beispiel auch in der Poetikepoche einer zehnten Klasse angelegt wird. Von den Teilnehmenden hörten wir eigene Gedichte, in freier Weise vom Sonett inspiriert. In der gegebenen Form fand das persönliche Erleben einen eigenen, berührenden lyrischen Ausdruck.
Im Workshop Klassenspiele und Einzelproben wurde der Frage nachgegangen, wie Jugendliche über die Bewegung (Gang, Haltung, Gestik) und mit gezielten Sprachübungen zum Wesen ihrer Rolle finden. Oder auch, welche Gestaltungsmöglichkeit hat eine Rolle durch das Bespielen der ganzen Bühne mit einem einzigen Satz? Zwei Teilnehmende zeigten für uns eine kurze Sequenz aus Apfelblüten von Martin Umbach. Ein Mann und eine Frau müssen sich trennen, er schreibt ihr einen Brief, den sie zeitgleich liest. In der Weise, wie die beiden die Textstellen verteilten, lag schon eine Aussage über die Beziehung, und durch die grosse räumliche Distanz auf der Bühne wurde eine beginnende Entfremdung erlebbar.
Im Workshop Puppentheater – Die Sprache als Lebens-Erwecker von Marionetten, Stab- oder Fingerpuppen und Figuren war das Hauptthema sich mit der eigenen Gebärde und Sprache in die Puppe einzufühlen, so dass sie sich ihrem Wesen gemäss bewegt und spricht. Eine Fingerpuppe anders als eine Handpuppe, eine Stabpuppe wieder anders als eine Marionette. Und auch, wie wirkt dies wiederum in welchem Alter und in welcher Weise auf die Kinder. Die Teilnehmer:innen führten mit Stabpuppen den Anfang des Märchens Jorinde und Joringel auf – eine anspruchsvolle Aufgabe, denn das Führen der Puppen erfordert auch viel technisches Können. Schon die kleinste Neigung des Kopfes oder eine Bewegung der Hände kann eine zauberhafte Wirkung auslösen.
Beim Workshop Gemeinsam sprechen und spielen in der Unterstufe konnten die Teilnehmer:innen vom grossen Erfahrungsschatz der Workshopleiterin in der Sprachpflege der zweiten Klasse profitieren.
Pädagogik und Sprache: Vorträge
Als ein belebender Quell vertiefender Betrachtungen durchzogen vier Vorträge die Tagung; ein vielstimmiger Zusammenklang, um das Bewusstsein zu wecken für die existentielle Bedeutung der Sprache in der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen und für die grosse Verantwortung, die wir als ihre Begleiter:innen tragen. Aus dem Reichtum der Gesichtspunkte im Folgenden einige Aspekte.
Im ersten Vortrag am Freitag Die Sprache als Schauplatz des Drachenkampfes. Vom Ringen mit der Sprache und der Entwicklung zur Freiheit sprach Nicolai Petersen über die Bedeutung mythologischer Bilder, die uns das Wesen Sprache in seiner Geburt, Entwicklung und Gefährdung verdeutlichen. In der finnischen Kalevala wird die Sprache aus den Elementen Wasser und Luft geboren, und erhält in diesem Zusammenspiel ihre Lebendigkeit und ihre noch ganz in den Lauten lebende Qualität. Diese Qualität geht verloren, je stärker sich das Denken strukturierend der Sprache bemächtigt und sie zu einem Werkzeug der reinen Information bilden kann – auch mit allen Möglichkeiten der Desinformation, wie wir heute erfahren müssen.
Dieser Aspekt der Sprache, ihrer Möglichkeit zur Unwahrheit, wird in der germanischen Edda durch die Gestalt des Loki repräsentiert, der Vielredner, Lästerer und Lügner. Sein Gegenspieler ist Thor, der sich im mythischen Bild mit dem Hammer der Ich-Kraft behauptet. Auch wir werden, immer bewusster und verstärkter, aus dieser Kraft um eine mit ihrem geistigen Ursprung verbundene Sprache ringen müssen.
Welchen grossen Herausforderungen wir entgegen gehen, stellte Ulrike Hans in ihren Ausführungen im Vortrag Wohin aber gehen wir? Die menschliche Sprache und ihre Nachbildung durch künstliche Intelligenz eindrücklich dar. Eines ist sicher, künstliche Intelligenz wird schon in vielen Lebensbereichen eingesetzt und wird zunehmend einflussreicher werden. Prominentes Beispiel ist ChatGPT im Bereich der Sprache, in bisher nie dagewesenen Dimensionen. Und auch humanoide Roboter werden immer verfeinert. Gerade da zeigen sich aber auch die entscheidenden Unterschiede zwischen menschlicher und künstlicher Sprache. Mag diese an der Oberfläche durch Akustik und Inhalt gleich erscheinen, so fehlen ihr die im Subtext liegenden Schichten des Partnerbezugs, der Empathie, der Perspektive, der Authentizität und Verantwortung. Daher auch die eindringliche Aufforderung von Ulrike Hans, Sprache in der Pädagogik in allen nur möglichen Formen zu pflegen: im Erzählen, im Sprechen und Rezitieren, im Theater-Spiel, im Rhetorik Unterricht.
Aus der Erfahrung in seiner Zeit als Klassenlehrer sprach Claus-Peter Röh in seinem Vortrag Momente unmittelbarer Evidenz zwischen Entwicklung und Grammatik. Wie entstehen Spielszenen aus dem Alltag? über ein wichtiges pädagogisches Prinzip: die Unterrichtsinhalte immer auch im Kontext der jeweiligen Klasse zu bewegen, im Wahrnehmen von dem, was gerade unter den Kindern lebt. So kann das Thema Die sechs Zeiten des Verbums eine lebendige Gestalt erhalten als kleines Theaterstück, in dem die Zeiten um ihren Rang streiten. In einer Klasse, wo Spannungen bestehen, können diese über das Spiel verwandelt werden; und die Konflikte lösend erscheinen dann die Konjunktionen als verbindende Elemente. Der Vortrag war eine ermutigende Aufforderung, im Umgang mit der Sprache selbst kreativ zu werden, und Grammatik in Spielszenen zu verlebendigen.
Den letzten Vortrag am Sonntag Eindruck und Ausdruck, Sprache und Sprachlosigkeit – zu den leiblichen Grundlagen des Sprachorganismus hielt Karin Micheal auf dem Hintergrund ihrer langjährigen Tätigkeit als Ärztin für Kinder und Jugendliche. Sie stellte dar, wie verletzlich und schützenswert die leibliche Grundlage in der Entwicklung des Kindes ist, aber auch, gerade heute, wie ausserordentlich bedroht. So kann nur schon ein Lebensstil, der dem Kind nicht ermöglicht, Widerstandskräfte zu entwickeln, dazu führen, dass das Ich den Stoffwechsel nicht genügend durchdringen wird. Die Folgen sind Unruhezustände und zunehmende Nahrungsunverträglichkeiten. Auch die Sinnesüberreizung durch die elektronischen Medien ist omnipräsent und verlangt nach Schutz. Das Ich, das in seinem Leib keine gesunde Verankerung findet, erlebt Hindernisse in seiner sprachlichen Ausdrucksfähigkeit.
Blanche-Marie Schweizer, Germanistin, künstlerische und therapeutische Sprachgestaltung, Rudolf Steiner Schule Bern Ittigen Langnau, Schweiz.
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