Da prallen Selbstverständnis, Haltungen und Gewohnheiten aufeinander. Der Konflikt hat Vorläufer: die gesundheitspolitische Debatte um die Masernimpfpflicht, den Streit um die Digitalisierung der Schulen und die heiß umkämpfte Frage des Einschulungsalters.
Was aber in der Corona-Krise neu ist: Die Schnelligkeit, mit der neue Fakten geschaffen wurden. Mit der Schließung der Schulen wurde massiv in die Rechte und die Lebenssituation von Kindern eingegriffen; die umfassende Digitalisierung der pädagogischen Beziehungen und der Kinderzimmer vorangetrieben, Freundschaften brachen auseinander und am meisten traf es – wie immer – die Kinder und Elternhäuser.
Die Folge davon war Schweigen. Überall! In den Medien, in den Kollegien, in den Schulen, in der Verwandtschaft, einfach überall herrschte – und herrscht teilweise immer noch – Sprachlosigkeit.
Es ist ein Verdienst des Runden Tisches, diese Problematik – in Anerkenntnis der bisherigen Versäumnisse – besprechbar zu machen. Anwesend waren eine einmalige Mischung an erfahrenen Ärzten und Pädagogen, die vom Goetheanum bis zum Bund der Freien Waldorfschulen die wesentlichen Organisationen der anthroposophischen Bewegung vertraten.
Karin Michael, Schul- und Kinderärztin am Gemeinschaftskrankenhaus Witten-Herdecke, gab Einblick in die Lebenswelt derjenigen, die in ihrer Sprechstunde auftauchen. Eindrücklich beschrieb sie die Veränderungen des physischen Erscheinungsbildes: Muskelschwund, einseitige Körperhaltungen und Übergewicht. Folgen von Bewegungsmangel. Eine weitere Auffälligkeit: Noch nie fielen so häufig Termine aus. Der Grund? – Nicht die Angst vor Corona, nicht die Überlastung, nein, sie wurden schlicht vergessen. Warum? Weil der gewohnte Tagesrhythmus verloren ging. Der unstrukturierte Tagesablauf im »Lockdown« macht für viele die rhythmische Gestaltung des Alltags zu einer Herausforderung. Wer sie nicht bewältige, dem werde eine wichtige Grundlage für die Bildung von Erinnerung entzogen.
Daran schloss sich die Frage an: Was brauchen Kinder und Jugendliche, um den erlittenen Verlust ihrer Entwicklungsumgebung zu verarbeiten? Welche Angebote und Maßnahmen werden notwendig sein, um die gesunde Entwicklung von Schulkindern massiv zu fördern? Hier ist nicht der Blick auf diejenigen maßgeblich, die es schaffen, sondern auf diejenigen, die verloren gegangen und benachteiligt sind. Man müsse gemeinsam mit den Gesundheitsämtern und den Elternschaften darauf hinarbeiten, dass z.B. Landwirtschaftspraktika und längere Klassenausflüge wieder zugelassen werden. Das sei selbst im Sinne des Pandemieschutzes sinnvoller als der tägliche Aufenthalt in Klassenzimmern.
Bernd Ruf, Lehrer und Notfallpädagoge am Parzivalzentrum in Karlsruhe, fügte eine traumapädagogische Perspektive hinzu. Nicht alle Kinder seien traumatisiert, trotzdem könne zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden, dass die Corona-Maßnahmen insbesondere bei Kindern eine seelische Entwicklungsdynamik auslösten, die mittel- oder langfristig zu einer tiefen Verängstigung oder unkontrollierten Aggression führe. Kinder seien insbesondere bei Katastrophen auf die innere Ausrichtung der Erwachsenen angewiesen, diese vermittle ihnen Sicherheit. Hier aber geraten gerade aktuell Lehrer oder Eltern in ein Dilemma: Was tun, wenn alles, was als sinnvoll und richtig für die Kinder erkannt werde, der Gefahr der sozialen Ächtung oder gar dem gesetzlichen Verbot ausgesetzt wird? Was, wenn im aktuellen Sozialklima das notwendige Vertrauen fehle, um wirkliche Innovationen umzusetzen?
Florin Osswald von der Pädagogischen Sektion am Goetheanum beantwortete diese Frage auf pragmatische Art: »Wir haben Schule einfach wie bisher weiter gemacht. Nur digital und von Zuhause aus. Das war falsch!« Von den vielen Berichten hat ihn vor allem einer überzeugt: Ein Lehrer, der den Unterricht nicht einfach weiterführte, sondern mit seiner Klasse die Veränderungen besprochen und sich dem »Nicht-Wissen« ausgesetzt habe. Daraus sei eine »gemeinsame Forschungsgemeinschaft« entstanden, die die aktuelle Situation als Lehr- und Lerninhalt annehme. Doch auch hier blieb die Frage nach der konkreten Umsetzung offen: Darf ein Lehrer seine Schüler zu Hause besuchen? Kann eine Lehrerin auf ihr abiturrelevantes Unterrichtsprogramm verzichten und Lebensfragen besprechen? Wie wäre es, während des Lockdown auf Schule ganz zu verzichten und nur Ausflüge in den Wald zu machen?
Und genau an der Frage »Was ist jetzt dran?« merkt die Runde, wie groß die Aufgaben und Herausforderungen sind. Es entsteht kein gemeinsames Vorhaben, denn dafür müssten viele vorbereitende Schritte getan werden. In einem Punkt hat das Format ein Ziel erreicht: die Wiederherstellung der Sprachfähigkeit. Dazu aber gehören drei wesentliche Schritte. Erstens die Wirklichkeit der anderen ernst zu nehmen, zweitens die unterschiedlichen Meinungen – und seien sie noch so weit auseinander – als eine mögliche Wahrheit anzusehen und drittens den Fokus der eigenen Aufmerksamkeit auf ein gemeinsam zu entwickelndes Ideal zu richten.
Gespaltet werden die Gesellschaft, Schulgemeinschaften oder Freundeskreise nicht von unterschiedlichen oder falschen Meinungen, sondern von fehlenden Gesprächsräumen, in denen diese als Teil einer gemeinsamen Wirklichkeit zum Bewusstsein kommen könnten.
In diesem Sinne ist für Peter Selg die Aufgabe des Schularztes an Waldorfschulen zu verstehen: »Rudolf Steiner wollte die Gesundheitsfrage nicht dem Staat – einer vermeintlichen Objektivität – überlassen, für ihn war der Ort, an dem Gesundheit entsteht, in erster Linie eine Angelegenheit der direkt betroffenen individuellen Menschen: der Kinder, der Eltern und des geschulten Arztes.«
Die Corona-Pandemie zeigt: Gesundheit ist nicht nur Privatsache, sie ist – genauso wie die Bildung – eine gesellschaftliche Angelegenheit. Es ist nach einem Jahr Pandemiepolitik nun an der Zeit, das Individuum und seine Freiheit wieder ins Zentrum der Gesellschaft zu stellen – nicht als Lippenbekenntnis, sondern als handlungsleitendes Ideal und als konkrete Herausforderung der nächsten Monate und Jahre.