Sachbuch

Anthroposophie in der Geschichte der Philosophie

Stefanie Benke

Zu ihnen gehören Plato, Aristoteles, Thomas von Aquin, Goethe, Fichte, Hegel, Nietzsche, Stirner, Brentano, Husserl und Herbert Witzenmann. Das Buch, dem eine Vorlesungsreihe aus dem Jahr 2017 zugrunde liegt, versucht, die «abendländischen Denktraditionen» und die «philosophisch-rationalen Hintergründe» der Anthroposophie nachzuzeichnen.

Jeder der zehn Autoren kommt der Aufgabenstellung auf ganz individuelle Weise nach. Während beispielsweise David Marc Hoffmann Leben und Werk von Friedrich Nietzsche und die geistige Atmosphäre seiner Zeit, in die auch Rudolf Steiner hineingeboren wurde  und zu der er in Beziehung trat, aufleben lässt, geht Wolf-Ulrich-Klünker von bestimmten Fragestellungen aus und knüpft eine geistige Linie zwischen Aristoteles, Thomas von Aquin, der Anthroposophie und Erkenntnisproblemen der Gegenwart. Jaap G. Sijmons setzt die Bewusstseinsphänomenologie Husserls in Beziehung zu Steiners Typologie der zwölf Weltanschauungen.

Einen zentralen Ausgangspunkt des Buches formuliert Hartmut Traub in seinem Beitrag «Erfahrungsorientierte Seelenkunde»: Wenn in einer Zeit «der Horizont religiöser Transzendenz mit seinen sinnstiftenden Deutungsangeboten verloren» gehe, entstehe eine «Überforderungsgeschichte des Diesseits». Wenn gewisse Antworten verschwänden, die grundlegenden Fragen aber blieben, führe dies die Menschheit in eine Krise. Klünker konkretisiert in seinen Ausführungen über Aristoteles die Veränderungen des Wissenschaftsbegriffes im Lauf der Zeiten. Während früher «die Seele als Gestaltungs- und Formprinzip des Leibes bzw. Organismus» verstanden wurde, habe die Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert diese aristotelische Auffassung in ihr Gegenteil verkehrt. Heute gelte der Leib als Hervorbringer und Gestalter der Seele.

Doch indem Steiner beispielsweise im «Heilpädagogischen Kurs» von einem Seelenleben spricht, das den Leibaufbau konstituiere, greift der das frühere Paradigma wieder auf und erneuert es. Auf das Wirken des Bewusstseins «von oben» richtet Klünker den Blick und leitet diese Auffassung aus ihren Quellen her.

Die Bedeutung der individuellen Ichtätigkeit und des Denkens für das Verhältnis zur Wirklichkeit wird von allen Autoren hervorgehoben. Leonhard Weiss etwa befasst sich in Anknüpfung an Hegel mit der Wunde geistiger Produktivität, die den Menschen aus dem Ganzen herausfallen lasse und eine Scheidewand zwischen Ich und Welt errichte. Das Denken, das diese Wunde schlage, heile sie laut Hegel aber auch.

Jost Schieren setzt sich mit den Erkenntnisgrenzen auseinander, die von Kant festgeschrieben wurden. Kant habe mit seiner Grenzziehung für den Glauben Platz machen wollen, Steiner hingegen zeige einen Weg zur unmittelbaren Geisterfahrung durch intellektuelle Anschauung.

Im Unterschied zu den meisten Beiträgen, die Beziehungen der Anthroposophie zu geistesgeschichtlichen Quellen behandeln, geht Johannes Wagemann in seiner Betrachtung von der Anthroposophie aus und schildert ihre Entwicklung im Werk Herbert Witzenmanns. Den gemeinsamen Boden von Anthroposophie und Naturwissenschaft findet er in der Methode der (seelischen) Beobachtung. Seine differenzierte Analyse des Erkenntnisprozesses vertieft Fragen, die an Steiners «Philosophie der Freiheit» entstehen können, aber von Witzenmann und Wagemann wieder aufgegriffen werden und zu einer inneren Eigenaktivität und einem jeweiligen Antwortsuchen in Bezug auf die Beobachtung des eigenen Bewusstseinsprozesses führen.

Die Beiträge des Sammelbandes führen in zentrale Theoreme der jeweils behandelten Denker ein und berühren auch biographische und zeitgeschichtliche Horizonte. Sie lassen die philosophischen Hintergründe der Anthroposophie deutlich hervortreten. Indem diese Anknüpfungspunkte als die Frucht einer vertieften Beschäftigung des jeweiligen Autors erscheinen, wird auch dessen geistig-individuelle Produktivität sichtbar. Das, was sich aus der Verbindung dieser Aufsätze in dem Band letztlich ergibt, ist dabei mehr als die Summe seiner Teile. Es ist ein geistiges Gespräch – im Sinne einer niemals abgeschlossenen, sondern immer neu entstehenden Wirklichkeit –, das aus den Tiefen der Vergangenheit in unsere Zeit erklingt und jede/n von uns dazu einlädt, darin einzutreten.

Jost Schieren (Hrsg.): Die philosophischen Quellen der Anthroposophie. Eine Vorlesungsreihe an der Alanus-Hochschule, 344 Seiten, 24,90 Euro, info3 Verlag, 2022

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