Gender

Beziehungskunst

Sophia Klipstein

Wie programmatisch dieses Wort war, erfahre ich 15 Jahre später, als ich ein Buch mit diesem Titel in den Händen halte. «Beziehungskunst», herausgegeben 2022 von Sven Saar. Es trägt den Untertitel «Menschlichkeit, Identität und Sexualpädagogik in der Waldorfschule» und das Cover hat – natürlich – einen regenbogenfarbenen Schleier, hinter dem man viele offene, einander zugewandte Hände sieht. Diese visuelle Botschaft zieht sich durch das ganze Buch. Jedes der 16 Kapitel hat eine eigene Farbe, die in den feinen Handzeichnungen zu Beginn des Kapitels, in den Texten und sogar den Seitenzahlen auftaucht. In den überwiegend hochwertigen Abbildungen sind nicht nur hellhäutige Menschen zu sehen, das Autor:innen-Verzeichnis ist divers und alle Texte arbeiten konsequent mit farbigen Gender-Doppelpunkten. Formal also alles richtig gemacht. Die Ästhetik des Buches ist tatsächlich eine Einstiegshilfe, beim Durchblättern entsteht unwillkürlich ein Wohlgefühl, eine lustvoll-positive Haltung. Die Farbcodierung ermöglicht eine einfache Orientierung im Buch, als visuelle Lernerin kann ich mir merken, dass ich gerade das hellgrüne Kapitel lese. Die Reihenfolge der Beiträge lässt sich allerdings nicht schlüssig nachvollziehen. Grundlagentexte, Forschungsergebnisse und individuelle Themen wechseln fröhlich miteinander ab, eine sich durch das Buch hindurchziehende Dramaturgie ist nicht zu erkennen, jeder Beitrag steht abgeschlossen für sich. Das hat den enormen Vorteil, dass man die Kapitel in der Reihenfolge des persönlichen Interesses lesen und sich so zu den vermeintlich unbequemen Themen vorarbeiten kann.

Beginnen könnte man beispielweise mit dem Grundlagentext von Lea Deffner. Er bietet einen Überblick über den aktuellen gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Diskurs. Begriffsklärungen, Definitionen von Gewalt, Hinweise auf gendersensible Sexualpädagogik und ein Bewusstsein über Stereotype und Vorurteile sind Voraussetzungen, die jede:r Pädagog:in kennen sollte. Lea Deffner, Künstlerin, Kunsttherapeutin und Pädagogin, vermittelt zwischen Anthroposophie und feministischen Queer-Theorien. Damit leistet sie der anthroposophischen Gesellschaft einen nicht zu unterschätzenden Beitrag und wischt mit Schwung und klarer Begrifflichkeit alle z.T. moralisch-urteilenden und metaphorisch-verbrämten Texte, auf die man als Waldorfpädagog:in bisher zurückgreifen musste, fort. Es fühlt sich beim Lesen an, als habe jemand gründlich Hausputz gemacht und präsentiere nun die wunderbare, komplexe Vielfalt der Geschlechter. Ja, möchte man danach rufen, Geschlecht betrifft uns alle!

Einen gut strukturierten und daher überschaubaren Lehrplan für die gesamte Schulzeit bietet Michael Zech in «Beziehungs- und Sexualpädagogik». Beim Lesen entdecke ich Parallelen zu Dr. Ha Vin Tho, der sagte, um Glück von Dauer zu erlangen, müssten drei grundsätzliche Entfremdungen überwunden werden: die Entfremdung von der Natur (der ethische Aspekt von Beziehung), die Entfremdung von anderen Menschen (der soziale Aspekt) und die Entfremdung von uns selbst (der physische Aspekt). Im Vordergrund steht jedoch die Kompetenzentwicklung des Einzelnen. Der Text ist sprachlich nüchtern und klar, vermeidet anthroposophisch-literarische Formulierungen und könnte so in jedem ganzheitlich ausgerichteten Lehrplan stehen.

Der Beitrag «Beziehungskunde aus schulärztlicher Perspektive» von Martine Runge-Rustenbeck vertieft die Lehrplanempfehlungen von Zech. Auch hier die Aufteilung in Altersstufen, jede umfangreich in ihrer Entwicklung beschrieben und mit anschaulichen Anregungen für den Unterricht. Auch gibt sie praktische Hinweise für Kinder- und Jugendschutz in Schulen: Das Thematisieren der UN-Kinderschutzkonvention schon in der Unterstufe, Theaterpädagogik als Gewaltprävention und Elternabende mit Kinderschutzbeauftragten. Unwillkürlich stellt sich die lesende Lehrerin die Frage: «Und wie sieht es bei uns aus? Was ist unsere Schulkultur?« Die Antwort lautet: «Da ist noch viel Luft nach oben.»

Sibylle Raupach beschreibt in «Beziehungskunde für alle», wie Beziehungsfähigkeit nicht nur in allen Altersstufen, sondern auch mit allen 12 Sinnen geschult und geübt werden kann. Anhand vieler Beispiele und Begebenheiten mit heilpädagogischen Schüler:innen geht sie auf Entwicklungsmomente ein. Sie stellt dem äußeren Beziehungskunde-Konzept der Mittelstufe ein inneres Konzept gegenüber: die Haltung, allzeit bereit zu sein für die direkten und latenten Fragen der jüngeren Kinder. Auch hier zeigt sie Handlungsmöglichkeiten für alltägliche Situationen auf – beispielsweise Schimpfworte auf dem Pausenhof – , die sich alle auf Beziehungsgestaltung auswirken.

Momente der Scham kennt jede:r, noch nach vielen Jahrzehnten erinnert man sich an die peinlichen, unangenehm entblößenden Situationen in seinem Leben. Christian Breme geht den Ursachen der Scham auf den Grund, die sich ja besonders in der Pubertät zeigt. Scham einerseits als Schutzmantel, den es zu respektieren gilt. Scham andererseits als seelisches Verkrampfen, das tiefe Selbstzweifel erzeugen und die Lebenskräfte abtöten kann. Beim Lesen vieler Passagen erinnerte ich mich an Situationen, in denen meine Schüler:innen aus für mich unerfindlichen Gründen beschämt reagierten oder in denen ich jemanden unabsichtlich beschämt habe und mich danach selbst dafür schämte. Wie sensibel man werden muss, um auf diesem Feld der Selbst- und Fremdachtung keinen Schaden anzurichten – und das zu einer Zeit, in der die Schüler:innen selbst immer weniger sensibel werden!

Ab wann beginnt sich eigentlich das Schamgefühl zu entwickeln? Während ich mit neun Jahren noch nackt am Meeresstrand herumtollte, tragen heute schon Kleinkinder Bikini. Welche Beziehung entwickle ich als Kind zu meinem Körper?

Die Bedeutung von Sexualität und Geschlechtlichkeit im ersten Jahrsiebt schildert Elke Rüpke in ihrem Beitrag. Dass Eltern und Erzieher:innen eine grundlegende Verantwortung für diese Entwicklung haben, erläutert sie anhand von vier Aufgabenfeldern: 1. Das Wissen um die psychosexuelle Entwicklung sei Voraussetzung dafür, um das Hineinwachsen in den Körper und die Welt verständnisvoll zu begleiten. 2. Die Fähigkeit des Erwachsenen, die eigene Sexualität und Identität ganzheitlich und sozial verträglich leben zu können, beruhe auf seinen Erfahrungen im frühen Kindesalter. Das Erleben differenzierter Emotionen, eine befriedigende Eltern-Kind-Bindung sowie vielfältige Sinneserfahrungen bilden die Basis dafür. 3. Wie sich das Kind selbst sieht, hängt vom Blick der es umgebenden Erwachsenen ab. Rüpke betont, wie wichtig die Momente im pädagogischen Alltag sind, in denen Vorurteile, Sympathien, Antipathien und unbewusste Ungleichbehandlungen reflektiert werden. Nur durch den Abstand zu sich selbst können Erwachsene Vorbild sein und den Kindern sozial-emotionale Kompetenz vorleben. 4. Den Bereich der Kindeswohlgefährdung gilt es als Einzelperson und als Institution in den Fokus zu nehmen. Rüpke empfiehlt Prävention durch kindgemäße Regeln, kollegiale Gespräche, Elternabende und ein sexualpädagogisches Konzept.

Ausgehend von der Frage, wie ein:e Klassenlehrer:in heute mit den patriarchalischen Strukturen unserer mitteleuropäischen Märchen umgehen könne, entwickelt Hassenstein ein Panorama von dort aus über Mythen, Sagen und Legenden bis hin zum Geschichtsunterricht der Mittelstufe. Die bildhafte Erzählung müsse sich dem Bewusstsein der Heranwachsenden anpassen und im Laufe der Jahre wandeln. Die Rollenzuschreibungen in Märchen seien für Erstklässler:innen weniger präsent als für ältere Schüler:innen, welche die vielgestaltigen sexuellen Orientierungen der indischen und griechisch-römischen Kulturepoche bewusster wahrnehmen. Dennoch – oder gerade deshalb – kann die Lehrperson sich versuchsweise spielerisch mit Rollenklischees auseinandersetzen, ein Märchen einmal anders erzählen oder aus den griechisch-römischen Heldensagen auch die weichen Seiten heraus arbeiten (Achill und Patroklos). Für das Anders-Erzählen von Märchen sei hier auf die 8. Folge des podcasts #waldorflerntsexeducation hingewiesen.

Neben den allgemeineren gibt es in diesem Buch aber auch Beiträge, die konkrete Situationen beschreiben. Beeindruckend ist der autobiografische Text von Irene Eikhoff, in dem anhand des eigenen Coming-Outs die Situation der LGBTI:-Personen geschildert wird. Irene Eikhoffs sehr persönliche Erfahrungen als Privat- und Lehrperson sollten jede:n ermutigen, entspannt, offen und zugleich respektvoll mit sexueller Orientierung umzugehen. Ihre Geschichte gibt Hoffnung, dass sich in einigen Jahren keine:r mehr «outen« muss, sondern jede Form von sexueller Identität als selbstverständlich gesehen wird.

Dann gibt es die kleine feine Geschichte von Caspar, der wirklich Lina sein möchte. Sensibel beschreibt Sven Saar, wie Eltern und Pädagog:innen mit dieser Verwandlung umgehen, die zunächst als vorübergehendes Spiel gesehen wird. Doch je näher die Pubertät rückt, desto ernsthafter wird das Thema der eigenen Identität. Auch wenn man kein transidentes Kind in der Klasse hat, sensibilisiert der Text dazu, genauer hinzuschauen und die Momente des Changierens zwischen den Geschlechtern bei den Schüler:innen wahrzunehmen.

Christian Breme schildert sehr nah am Alltag, wie Gespräche mit transidenten Schüler:innen aussehen könnten und wie man sie in die Adoleszenz begleiten kann. Er beschäftigt sich schon lange mit einer künstlerischen Herangehensweise an die Sexualerziehung und nimmt das Bild der Matrjoschka, um die 4 ineinander verfugten Wesensglieder des Menschen anschaulich zu machen. Anhand der immer kleiner und geheimer werdenden Puppen (im Innern eines jeden Menschen steckt ein goldenes Königswesen, der Gottesfunke, der Atman…) wird das Verständnis verschiedener Identitäten begreifbar und sichtbar. So kann sich hinter der äußeren weiblichen Puppe eine männliche verbergen oder eine, die vielgeschlechtlich aussieht.

Martyn Rawson, der sich für das englischsprachige Curriculum schon länger mit Sexualität, Gender und Identität auseinandersetzt, hat in seinem Praxisforschungsprojekt am Beispiel zweier Waldorfschulen (Hamburg, Beijing) untersucht, wie der Themenkomplex Sexualität, Gender und Identität an Waldorfschulen lebt. Zusammen mit Schüler:innen entwickelte er Lehrplanempfehlungen, die für manch eine:n Lehrer:in sicher provokativ sind. Bereichernd finde ich den Verweis auf die Arbeit mit den vier Wesensgliedern. Die Beziehungs- und Sexualerziehung müsse jeden Leib (physisch, ätherisch, astralisch, Ich) auf spezifische Weise ansprechen. Die Missachtung der vier Dimensionen führe zu jeweils unterschiedlichen ungesunden Ausprägungen. Ist sich die Lehrperson dieser Differenzierung im Unterricht nicht bewusst, so kann es zu Einseitigkeiten kommen, deren Symptome dann in der Oberstufe mühsam durch Sozialarbeit, Suchtintervention oder psychische Beratung behandelt werden müssen.

Ein gesamtkollegiales Bewusstsein für Sex, Gender und Beziehung zu schaffen, ist eines der mühsamsten Unterfangen. Es gibt selten ein Schulkonzept dafür und die Verantwortung und Inhalte für die Sexual-/Beziehungs-/Menschenkunde-Epochen wird gern den Klassenlehrpersonen überlassen, schließlich müsse man individuell abspüren, was die Schüler:innen bräuchten und verkraften – so heißt es. Petra Hamprecht-Krause schildert in ihrem Beitrag, wie sie anhand von Fragebögen und Konferenzgesprächen versucht hat, ihr Kollegium für das Themenfeld zu sensibilisieren. Ihr Ergebnis zeigt, dass zwar viel Wissen vorhanden ist und eine didaktische Relevanz in vielen Fächern gesehen wird, Geschlechterrollen in der Unterrichtspraxis aber kaum auftauchen. Ihr Beitrag zeigt beispielhaft die Lücke, die sich an einigen Waldorfschulen auftut. Gemeinschaftlich eine Schulkultur weiterzuentwickeln, scheint wirklich nur zu funktionieren, wenn eine Vielzahl von Kolleg:innen die existentielle Notwendigkeit fühlt, sich mit Geschlechtsidentität auseinanderzusetzen – gezielt und gewollt.

Der Klassenlehrperson wird auf Elternabenden mitunter die Frage «Was sagt denn Rudolf Steiner dazu?« gestellt. Da das Thema der Geschlechtlichkeit über 30 Jahre hinweg immer nur partiell und verbunden mit komplexen Forschungsergebnissen auftauchte, bedarf es hier mühevoller, zeitintensiver Recherche, will man nicht nur in die Zitatesammlung zum Stichwort «Sexualität« gucken. Dieses Problem löst nun Michael Zech mit seinem Text «Anthroposophische Ideen verstehen und weiterdenken«. Zech forscht und publiziert seit Jahrzehnten zum Thema Sexualerziehung und liefert uns nun eine gründliche Sammlung und Kontextualisierung von Steiners Aussagen. Sehr wohltuend ist seine Rezeption: Steiners Aussagen seien nicht als feste, konstative Behauptungen zu lesen, sondern als Thesen, die zum Überprüfen und Nachforschen anregen sollen. Dieser Hinweis ist eine unglaubliche Erleichterung für diejenigen, in denen sich Widerwille oder Empörung regt, wenn sie Steiners Typisierungen von Jungen und Mädchen in der Pubertät lesen, die natürlich in einem Widerspruch zur heutigen Auflösung der geschlechtlichen Binarität stehen. Hier zeigt sich eine Beweglichkeit im Denken, die im Schulalltag und in der Vorbereitung einer Epoche oft verloren geht.

Zechs Beitrag ist gehaltvoll, man liest ihn nicht mal eben zwischendurch. Für den Elternabend zur sexuellen Bildung in der Mittelstufe ist er jedoch eine notwendige Vorbereitung.

Wer jedoch wie ich als Klassenlehrerin in Arbeit zu versinken droht und kaum Zeit für Unterrichtsvorbereitung, geschweige denn Lektüre aufbringt, dem sei mindestens Sven Saars vielfach erprobte und erneuerte Epoche zur Lebens- und Sexualerziehung empfohlen. Aber Obacht: Ein fertig konzipiertes All-Inklusive-Paket zum sofortigen Öffnen bietet der Beitrag «Leben und Liebe» auch nicht – womöglich ist dies die Epoche mit der längsten, ausgiebigsten, persönlichsten Vorbereitung. Wie viel Freude aber diese Vorbereitung machen kann, welche Erkenntnisse und Erfahrungen die Lehrkraft gemeinsam mit ihren Schüler:innen aus den gemeinsamen Themen ziehen kann, wie fein, reich, leicht und humorvoll Unterricht sein kann, das beschreibt Laura Frey in ihrer wunderbar anschaulichen Masterarbeit, deren Extrakt wir in diesem Buch lesen dürfen.

Alle Beiträge sind ausnahmslos angenehm zu lesen und ich hatte an keiner Stelle das Gefühl von moralischer Belehrung, wie ich sie bei älteren Büchern zur Sexualerziehung im anthroposophisch-waldorfpädagogischen Kontext erlebt habe. Diese liebensbejahende, beziehungspositive Haltung braucht es in jedem Kollegium, sie sollte Teil der Schulkultur sein und sich eines Tages –  neben den ebenso notwendigen Kinderschutz- und Medienkonzepten – in einem Konzept zur sexuellen Bildung an jeder Schule manifestieren!

Sven Saar (Hrsg.): Beziehungskunst, Hardcover., 304 S., EUR 25,–, 1. Auflage 2022, Verlag Pädagogische Forschungsstelle Stuttgart

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.