Sachbuch

Das geübte Auge

Peter Selg

Er war ein freier Geist mit einem außergewöhnlich weiten Horizont; trotz seiner Beheimatung in der künstlerischen Moderne des 20. Jahrhunderts hatte er ein tiefes Verständnis für die großen Entwicklungslinien der Kunst- und Bewusstseinsgeschichte, für Jahrtausende menschheitlich-kultureller Entwicklung.

Als Zaeslin schwer erkrankte, baten ihn Student:innen um ein Buch, in dem er seine Kunst- und Kunstdidaktik-Erfahrungen schriftlich niederlegen sollte. Was er in seinen letzten Lebensjahren daraufhin schuf, ist heute ein schrift- und bildgewordenes Vermächtnis dessen, was ihm in der methodischen wie persönlichen Annäherung an Kunstwerke so wichtig war. Gegen die Tendenz zur »überreizten Agitation auf dem Kultursektor« wollte er die verloren gegangene »ruhige Betrachtung in Muße und im Verstehenwollen von Werken« setzen bzw. als Kunst der Kunst-Betrachtung in neuer Weise ausbilden. Für ihn ging es darum, von den Kunstwerken zu »lernen« und über sie zu »meditieren«, auf einem Weg der schöpferischen, eigenaktiven Beobachtung und Aneignung. Die 116 Bilder von Guariento di Arpo bis Wassily Kandinsky, anhand derer er methodische Wege der Annäherung und des Verständnisses beschrieb, ließ Luzius Zaeslin zwar im Anhang seiner Monografie reproduzieren (»Werkübersicht«). Im Hauptteil aber kopierte er sie mit eigener Hand. Ihm war es um das tätige, eigenaktive Nachschaffen zu tun, um die Hand, die uns hilft, »uns daran zu erinnern, was das Auge trotz aller Aufmerksamkeit nicht vollständig wahrgenommen hat«. Die Hand des Menschen wird zum »Helfer des Auges«.

Zaeslin war dabei nie in Gefahr, sich mit den Werken der von ihm betrachteten Künstler:innen– oder gar mit diesen selbst – zu identifizieren, sondern verstand seine Kopie als methodische Annäherung, in größtem Respekt vor dem Bild, vor der realen und konkreten Begegnung mit einem einmaligen Werk. Er setzte die äußerliche wie innerliche »Nachschaffung« bewusst dem entgegen, was Walter Benjamin in seinem Aufsatz »Das Kunstwerk in der Zeit seiner technischen Reproduzierbarkeit« analysierte und als Entstellung der »Aura« des Werkes durch seine industrielle Massenreproduktion beschrieb. Zaeslin lehrte und zeigte seinen Schüler:innen und Student:innen die unmittelbare Begegnung mit dem Kunstwerk, die Schritte der Beobachtung und Selbstbeobachtung; er zeigte ihnen auch, dass es möglich ist, die »Realität des Malprozesses« eines gewordenen Werkes bis zu einem gewissen Grade noch nachzuerleben, allerdings nicht in mystischer Weise, sondern durch sehr genaue und liebevolle Beobachtung – angefangen vom Malgrund über die Qualität der Farben, die Weise der Pinselführung und der Erfassung der künstlerischen Mittel bis zur Technik, die der Maler gebrauchte.

Das »geübte Auge« von Luzius Zaeslin wird in dem Buch »Kunstgeschichte« überaus deutlich, trotz seiner durch und durch bescheidenen und zurückhaltenden Diktion. Seine Stilvergleiche der zwei Zeichnungen »Der Tod Mariens« von Dürer und Rembrandt, seine Beobachtungen an Munchs »Der Schrei« in Öl und als Holzschnitt, seine Stilanalyse der »Tierschicksale« von Marc, der Kompositionslinien von Kandinsky oder seine Annäherung an die künstlerische Eigenart von Klee sind ebenso markant wie gekonnt – und Zeugnis seiner tiefen »Erfahrenheit« im Sinne von Paracelsus, eines Erfahrens der Weltwirklichkeit, die mit dem »Fahren«, dem Reisen und Unterwegssein zu tun hat, der inneren wie äußeren Bewegung. Klees Aussage, dass die Kunst nicht das Sichtbare wiedergebe, sondern dass sie sichtbar mache, wird in der Arbeit von Luzius Zaeslin auf ganz eigene Weise evident. Er konnte sehr viel, war selbst ein hochbegabter Künstler:innen– in seinem Lehr-Buch und Lehrer-Leben aber ging es ihm nicht um seine Kunst, sondern um die der Anderen, um die Annäherung an sie im Raum der Begegnung, des »Du« im Sinne Martin Bubers. Auch Bildwerke sind Wesen – nicht von ungefähr zitierte Luzius Zaeslin John Berger mit den Worten: »Was gemalt wurde, überlebt im geschützten Raum des Bildes, im Raum des ›Gesehen-worden-Seins‹. Die wirkliche Heimat des Bildes ist dieser schützende Raum.«

Luzius Zaeslin, Kunstgeschichte. Ein kreativer Weg der Bilderbetrachtung, IL Verlag GmbH 2020, 139 S. 42,– Euro.

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