Geistiger Quantensprung

Lorenzo Ravagli

Es hat sich noch nicht überall herumgesprochen, aber die Quantenphysik des 20. Jahrhunderts hat dem Materialismus buchstäblich den Boden unter den Füßen weggezogen. Wenn wir heute sagen dürfen, der Materialismus als Weltanschauung sei überwunden, dann ist dies nicht ein Ergebnis der philosophischen oder religiösen Kritik, sondern ein Ergebnis der naturwissenschaftlichen Forschung.

»Wenn wir die Materie immer weiter auseinandernehmen«, so Hans-Peter Duerr, stellen wir am Ende fest: »Materie« ist nicht aus Materie aufgebaut. Es bleibt kein Stoff mehr übrig, »nur noch Gestalt, Form, Symmetrie, Beziehung«. »Materie ist geronnene Form.« »Im Grunde gibt es nur Geist.« Und wenn dieser Geist »verkalkt«, wird er zu Materie, zu festem Stoff. Das Wägbare entsteht aus dem Unwägbaren, die heutige Erde durch Verdichtung des Geistes – aus der »Willensstofflichkeit«, der »Energie« des Alten Saturn, können wir ergänzen. Die quantenphilosophische Kosmologie trägt in die Grundstruktur der Welt die Freiheit ein: den Indeterminismus, der das alte mechanistische Weltbild sprengt. Weil die Freiheit, die Unbestimmtheit immer schon ein Ingrediens der Wirklichkeit ist, kann sie auch im Menschen als individuelle Selbstbestimmung zur Erscheinung kommen. Wir müssen den Menschen nicht von der Natur loslösen, um seine Freiheit zu retten: sie ist immer schon da. Und noch so eine Einsicht: aus quantenphilosophischer Sicht gibt es keine voneinander abgegrenzten, isolierten Einzeldinge, sondern alles ist in einen Strom kreativen Seins eingebettet, alles ist mit allem verbunden, auf dem Grunde des Lebens, des Kosmos, strömt eine kreative geistige Einheit, aus der unablässig Neues hervorgeht.

Wer fühlt sich hier nicht an die alte theologische Idee der »creatio continua« erinnert, nach der ewig aus dem Quell des Seins der seinerhaltende Wille des Schöpfer hervorströmt und alles Geschaffene im Dasein erhält? Oder an gewisse Darstellungen Rudolf Steiners, nach denen alles Seiende von der schöpferischen Willenskraft der geistigen Wesen durchdrungen ist? Auch wenn der Geist der Quantenphysik nicht die Hierarchienwelt ist, so ist er doch offen für eine solche Deutung. Was hindert uns daran, die räumlich und zeitlich unbestimmten und unbestimmbaren, überaus unanschaulichen »Wirks« und »Passierchen« von denen Duerr spricht, als physikalische Spuren geistiger Wirksamkeit zu deuten, als flüchtige, nicht greifbare Anwesenheiten von Wesen?

In seinem kleinen vermächtnisartigen Buch ruft uns der über 80jährige Träger des alternativen Nobelpreises dazu auf, vor dem Hintergrund der Überwindung des Materialismus über grundlegende Fragen unseres gegenwärtigen Lebens auf Erden neu nachzudenken. Ein Wörterbuch des Wandels legt er vor, das kleine Meditationen über Arbeit, Atomkraft, Energie, Frieden, Poesie, Transzendenz, Wissenschaft und Verantwortung enthält – Meditationen über die Kernfragen unserer menschlichen Existenz angesichts ihrer selbstverursachten apokalyptischen Bedrohung. Dabei geht es stets darum, wie »das, was lebt« durch die Nachhaltigkeit alles menschlichen Tuns und Treibens »lebendiger werden kann«, – um eine »offene, aufmerksame, umsichtige, flexible, kreative, einfühlende und liebende Lebenseinstellung«, wie Duerr schreibt. Hier ist leider nicht der Ort, auf seine Vorschläge im einzelnen einzugehen. Aber soviel sei gesagt: Hans-Peter Duerr hält engagierte Plädoyers für eine ganzheitliche Weltsicht, die den heute leider immer noch herrschenden Reduktionismus in den Wissenschaften und im sozialen Leben überwinden könnte, Plädoyers, die sich auf einem hohen Niveau bewegen und sich durch ihre Kürze denkbar gut für den Philosophie- oder Lebenskundeunterricht der Oberstufe eignen. 

Hans-Peter Duerr: Das Lebende lebendiger werden lassen. Wie uns ein neues Denken aus der Krise führt,  165 S., EUR 17,95, oekom verlag, München 2011

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