Im Herzen von Else Lasker-Schüler

Ute Hallaschka

Eine ganz andere Erwartung haben wir, wenn wir eine Künstlerbiographie lesen. Darin ist das Interesse auf die reale Person gerichtet, auf den Alltag des Künstlers, wir erwarten konkrete Information.

Doch was macht einen Menschen zum Künstler? Ob man will oder nicht: Diese Frage stellt sich aktuell in jedes Menschen Lebenslauf. Wie bilde und dichte ich mich, in all der Zerstreuung – wie gewinne ich Spielraum, in all der Beklemmung? Ebenso dringlich stellt sich die zweite Frage: Wie kann ich mich original wahrnehmen unter und zwischen allem anderen und sicher sein, dass ich es bin in meiner Wirklichkeit?

Es ist ein unglaubliches Wagnis und ein künstlerisches Experiment, das Christa Ludwig hier unternimmt, indem sie die letzten Lebensjahre der Dichterin Else Lasker-Schüler in Jerusalem schildert. Das besondere an diesem Roman: Er ist aus der Ich-Perspektive geschrieben. Die Stimme der Dichterin spricht, die aber hier fiktiv, als Schöpfung der Autorin auftritt. »So ist dieses Buch der Versuch einer Annäherung, nicht einer Anverwandlung. Ich habe weitergedacht, weiterempfunden, weitergeschrieben, was sie vorgegeben hat«, wie Christa Ludwig formuliert.

Es ist die Fragestellung, die Goethe und bekanntlich auch Rudolf Steiner beim Verfassen seiner Autobiographie beschäftigt hat: das Leben als ein Gewebe von Fiktion und Dokumentation zu begreifen. Pure Fakten, nackte Tatsachen, belastbare Daten ergeben nicht unbedingt ein wahres Bild eines menschlichen Lebenslaufes. Es bedarf der exakten Phantasie, um zu einer Anschauung einer Person zu gelangen kann.

Im Gewebe des Romans verschwimmen die Grenzen, doch das bedeutet keineswegs, dass man die Orientierung verliert. Die Autorin hat einen Ton- und Schreibstil entwickelt, der den Prosatext selbst zur Dichtung werden lässt. Das geht so weit, dass man allmählich meint, mit Else Lasker-Schüler durch die Gassen Jerusalems zu spazieren. Ein leicht entrücktes Gefühl wie im Traum, doch zugleich wird man hellwach der Weltlage gegenüber. Lasker-Schüler war keineswegs so weltfremd, wie aufgrund ihrer äußerst exzentrischen Person oft unterstellt wird. 1942 steht Palästina unter britischer Mandatsverwaltung. Täglich kommen Flüchtlingsschiffe, verfolgte Juden aus ganz Europa versuchen Palästina zu erreichen. Doch ihnen wird die Einreise in den sicheren Hafen verwehrt. So sterben Hunderte und Tausende auf dem Meer. Der Dichterin bricht es das Herz.

Der heutige Leser findet sich in einer Welt, die räumlich und zeitlich weit entlegen scheint und doch plötzlich nah und greifbar wird. Man erfährt nicht nur neue Fakten, welche die Autorin in mehrjähriger Recherche zusammengetragen hat, sondern dieser traumhafte Text vermittelt eine Ahnung davon, wie es aussehen könnte, wenn Phantasie als schöpferisches Verfahren zur Imagination wird. 

Christa Ludwig: Ein Bündel Wegerich. Biographischer Roman, geb., EUR 22,–, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2018