Jedes Kind ein Könner

Christof Wiechert

Aber die Überraschung ist doch groß, wenn man einen engagierten, mit seinen Schülern tief verbundenen Lehrer erlebt, der in Worten und Beispielen sagen kann, was das abgenützte »Erziehung = Selbsterziehung« eigentlich bedeutet.

Das Buch ist ein Wegweiser durch die Waldorfschule und die Erziehungskunst. Dem eingeführten, wie auch dem nicht eingeführten Leser wird die Waldorfschule sichtbar, wenn der Autor uns einige seiner Schüler vorstellt, von denen jeder ein kleineres oder größeres Rätsel darstellt, das er als Klassenlehrer im Laufe der Zeit zu lösen versucht. Aber nicht nur das: Er verhilft diesen Kindern und Jugendlichen auch zu sich selber; sie können den zu ihnen gehörenden Lebensweg gehen. Die weckende Vorbereitung machte aus jedem »einen Könner« seiner selbst. So ist zum Beispiel der Sinn des gemeinsamen Pflügens sofort erlebbar an der Darstellung der Erfahrungen, die Alice und Robert an dem Vorgang erleben. An Lisa sieht man, dass Häkeln und Stricken in den frühen Jahren tatsächlich den Unterschied ausmachen, und man erlebt, wie Finn und Fionna mit dem Vergessen und Erinnern umgehen, wenn man als Erzieher und Lehrer den Schlaf auch mal ernst nimmt und in den Erziehungsprozess einbezieht. Berührend ist auch das Kapitel ›Der zweite Blick‹, wo erst nach Jahren ein Traum den Lehrer auf die Spur bringt, wie er einem nicht einfachen Schüler zu sich selbst verhelfen kann. Ein Theaterstück eigens für einen solchen Schüler zu schreiben, kommt der ganzen Klassengemeinschaft zugute. Als theoretische Feststellung ist das schwer vermittelbar, als Erlebnis geschildert sofort nachvollziehbar. Das allein ist schon überzeugend genug, um den Weltmenschen Kullak-Ublick auch als Klassenlehrer hoch zu schätzen.

Das Buch ist von Einschüben zu den üblichen, aber wichtigen Fragen zur Waldorfschule durchsetzt: Passt die Waldorfschule zu jedem Kind? Ist diese Schule nicht nur für schwach Begabte aus reichen Familien? Warum kein Sitzenbleiben und keine Noten? Kann man an der Waldorfschule Abschlüsse machen? Warum immer derselbe Klassenlehrer (und wenn das dann nicht »passt«)? Ist die Waldorfschule nicht eigentlich doch eine Weltanschauungsschule? Und wie ist das Verhältnis zur Anthroposophie? Was sind die Schwächen dieser Schule?

Das Werk runden ein kurzer Hinweis auf die anthropologischen Grundlagen, eine geraffte Übersicht des Lehrplans, ein Ausblick zu Fragen der Inklusion und die sogenannte Stuttgarter Erklärung (Waldorfschulen gegen Diskriminierung) ab. Natürlich fehlen weiterführende Empfehlungen zum Studium am Ende nicht. Der Autor bezieht seine Schüler, Kollegen und die Eltern im Dankeswort ein, denn sie waren es, die ihm diese Beschreibung der Waldorfschule ermöglichten.         

Henning Kullak-Ublick: Jedes Kind ein Könner: Fragen und Antworten zur Waldorfpädagogik, geb., mit farbigem Bildteil, 149 S., EUR 19,90, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2014 (auch als eBook erhältlich)