Kindheit 6.7

Wolfgang Debus (Lensahn)

Eine Streitschrift, weil der Autor sich mit vielen Berufsgruppen pauschal anlegt, die er an anderen Stellen wieder zur Untermauerung seiner kühnen Theorien braucht. Eine Streitschrift auch, weil er (sicher nicht nur bei mir) Widerspruch hervorlockt. Das betrifft die oft sehr vereinfachten historischen Darstellungen, die einfachen Kausalzusammenhänge und auch die Forderungen und Wunschvorstellungen des Autors.

Wer dieses Werk von knapp 500 Seiten durcharbeitet, findet durchaus eine Fülle von Anregungen und Fakten, die dringend dazu auffordern »mitunseren Kindern neue Wege zu gehen«. Lösungen dazu müssen wir allerdings selber finden.

Die Grundidee des Autors findet sich in dem Satz zusammengefasst: »Längst wissen wir, dass Familie und das ›wirkliche Leben‹ der Ort sind, an dem Kinder von ganz alleine (auch) eines lernen: demokratisches, soziales Verhalten«. Aber nicht nur das. Laut Hüter können Kinder in der Familie alles lernen, was sie zum Leben brauchen. Sie brauchen weder Kindergarten noch Schule. Er führt nur sehr am Rande an, dass es auch Kindergärten und Schulen geben mag, in denen eine »artgerechte« Begleitung gelingt.

Der gesamte Bereich gelingender Kindergärten und Schulen, von der Waldorfpädagogik bis zu den »Schulen für selbstbestimmtes Lernen«, der gesamte Bereich der Erlebnispädagogik – alles das ist für ihn so wenig erwähnenswert, wie die Erfolge, die viele einzelne Lehrerinnen und Lehrer an staatlichen Regelschulen haben oder ganze Schulen, die modellhaft kindgerecht arbeiten.

Die Fragwürdigkeit einer pauschalen Aburteilung von Bildungsinstituten und deren engagierter Begleiter sowie der Promotion von Familie zum einzigen kindgerechten Entwicklungsraum müsste dem Autor spätestens beim Studium des Berichtes »Deutschland misshandelt seine Kinder« der Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Guddat aufgegangen sein, die belegen, dass jedes Jahr mindestens 200.000 Kinder in Deutschland in den eigenen Familien schwer misshandelt werden. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.

Soweit die inhaltliche Kritik an einem Werk, das nicht zeitgemäße Feldforschung betreibt, sondern sich der (überholten) wissenschaftlichen Methode bedient, beliebig aus anderen Büchern und Aufsätzen zu zitieren. Wenn auch einzelne Abschnitte durchaus interessant sind, aufschrecken und zum Umdenken und Handeln auffordern, ist das Durcharbeiten des Werkes sehr mühsam, da ein roter Faden schwer zu finden ist. Die Abgrenzung zwischen Zitaten, den Aussagen aus anderen Zusammenhängen und der Meinung des Autors ist nicht immer auf Anhieb zu erkennen. Wiederholungen und Widersprüche tragen dazu bei, sehr bewusst und aufmerksam zu lesen, zu hinterfragen und den eigenen Standpunkt neu zu finden.

Meine Empfehlung: das Buch nicht durchlesen, sondern es zufällig irgendwo aufschlagen. Jede Passage bringt genügend Anregungen und Aufforderungen, sich ganz eigene neue Wege in der Begleitung von Kindern zu suchen.

Michael Hüter: Kindheit 6.7. Ein Manifest. Es ist höchste Zeit, mit unseren Kindern neue Wege zu gehen!, Paperback, 480 S., EUR 24,30, Edition Liberi & Mundo, St. Pölten 2018