Sachbuch

Resonanzen

Dirk Rohde

Ausgehend von künstlerischen Resonanzräumen im Theater und bei Konzerten arbeitet er anhand einer Installation des britisch-nigerianischen Künstlers Yinka Shonibare Besonderheiten der leiblichen Dimension als Teil der Bedingungen von Erkenntnismöglichkeiten heraus. Von diesem anthropologischen Ansatz aus schlägt er einen großen Bogen bis hin zur täglichen Unterrichtspraxis. Da unser Bewusstsein ein verkörpertes Bewusstsein ist, setzt aller Unterricht immer zugleich an Körper und Geist an. Von Geburt an machen wir Erfahrungen mit und in unserem Leib, die wir als uns eigen erleben und denen wir uns zugleich erlebend gegenüberstellen können. Mittels dieses Unterscheiden-Könnens üben wir zu urteilen. Dabei kommt es zu Habitualisierungen. Damit schließt Sommer an die in der Erziehungswissenschaft ausführlich diskutierten Habituskonzepte an, wie etwa die von Werner Helsper, und anderen pointiert charakterisierten Schülerhabitus. Durch die im Unterricht geübte Praxis eines waldorfpädagogisch spezifischen Urteilens kann in sehr besonderer Weise zur Ausformung eines Schülerhabitus beigetragen werden. Sommer bezeichnet diesen Aspekt als Urteilshabitus. Hervorzuheben sind hierzu die Möglichkeiten des Epochenunterrichts, der in seiner realisierten Form zu einem der Alleinstellungsmerkmale der Waldorfpädagogik zählt. Er fordert einen exemplarischen Unterricht, wodurch Allgemeines und Besonderes eine Verschränkung erfahren. Wird der Unterricht zudem lebendig gestaltet, können die Schüler:innen davon so angeregt werden, dass auch abstrakte Gedankenbildungen sie bis ins Leibliche hinein ergreifen, somit im Resonanzraum ihres Leibes stattfinden. Kognitives Lernen wird zu einer verkörperten Leistung. Sommer gibt dazu Beispiele aus der Physik und der Geschichte. Dadurch lasse sich die heute wahrnehmbare Entfremdung der Menschen von der Welt überwinden, wie sie unter anderem prägnant im Reduktionismus zum Ausdruck kommt.

Sommers Anliegen ist es, waldorfpädagogische, nichtreduktionistische Unterrichtsansätze mit der aktuellen Forschung zu Leib und Denken so zu beleuchten und zu befruchten, dass sie noch deutlich stärker als Chance begriffen werden, den Herausforderungen der Schulabschlüsse entschieden begegnen zu können. Er sieht diese originäre Vornahme der Waldorfpädagogik, deren Ursprünge er in Ausführungen Steiners verortet, von zwei Seiten in Gefahr. Seiner Beobachtung nach wird auf die Waldorfpädagogik in der Oberstufe einerseits aus Bequemlichkeit zugunsten reduktionistischer Prüfungsvorbereitungen verzichtet. Andererseits würden die gegebenen Möglichkeiten nicht ausreichend genutzt, weil es seitens der Schulen zu einer Relevanzabstufung der Abschlussprüfungen kommt. Sommer macht sich für einen nichtreduktionistischen Unterricht stark, der überhaupt erst im Sinne der Waldorfpädagogik zu einem vollumfänglich qualifizierenden Schulabschluss führt. Er schließt seinen Appell mit Vorschlägen, wie das in der Praxis gelingen kann.

Wilfried Sommer: Resonanzfiguren als Erkenntnisfiguren. Ein Essay zu 100 Jahren Oberstufenunterricht an Waldorfschulen. 62 Seiten, kart., EUR 8,– edition waldorf, Kassel 2021

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