Sachbuch

Studienbuch Waldorf-Jugendpädagogik

Maria-Sibylla Hesse

22 Texte nebst Einleitung werden gruppiert unter die Gesichtspunkte «Grundlagen», «Bildungserfahrungen und Sinnstiftung» sowie «gesellschaftliche Herausforderungen». Nach 100 Jahren Waldorfpädagogik erscheint hier eine Auffrischung mit dem Ziel, Jugendliche selbstsicher und urteilsfähig werden und ihre Identität finden zu lassen.

Einige Artikel stellen methodische Grundlagen dar, etwa zur Erkenntnistheorie, zu «latenten Fragen» oder «lebendigen Begriffen». Traditionelle Fachbereiche wie Naturwissenschaften, Sprache, Literatur und Musik werden auf aktuellem Niveau vorgestellt. Texte zu Medienbildung oder Dialogfähigkeit lenken die Aufmerksamkeit auf Querschnittsaufgaben, die besonders nach unseren beunruhigenden Erfahrungen der 2020er Jahre mit Klimakrise, Pandemie, Krieg der Zuwendung bedürfen.

Politisch aufgeladene Themen wie Postkolonialismus, sexuelle Bildung, Gender und Inklusion aufzugreifen, stellt kein neumodisches Anbiedern an den Zeitgeist dar, sondern bezieht relevante, bislang bei Waldorfs wenig ausgeleuchtete Bereiche ein, immer aus dem Blickwinkel der Begleitung Jugendlicher.

Die teilweise promovierten Verfasser*innen, darunter neue Namen, können zumeist aus Lehrtätigkeit und eigenen Untersuchungen schöpfen. Jeder Beitrag beginnt mit einer Einleitung und schließt mit einem Ausblick; er kann unabhängig von den anderen Artikeln gelesen werden. Verweise und ausführliche, aktuelle Literaturangaben laden zur eigenständigen Vertiefung ein.

Ein paar Kostproben: Wiehl verweist auf das in einigen Wissenschaftsrichtungen geforderte, lebendige, ganzheitliche Denken, das in der Waldorf-Oberstufe geübt werden soll. Steinwachs empfiehlt, durch Unterricht individuell und holistisch Sinnstiftung ausbilden zu lassen. Reus schlägt ein tieferes Kennenlernen der freien Persönlichkeit anhand des reflektierenden Ichs durch Philosophie vor. Wiehl wünscht sich mehr Sinnhaftigkeit im Unterricht und empfiehlt zur Selbstwirksamkeitserfahrung mehr Übergangsrituale. Rawson kritisiert teilweise noch nicht dekolonialisierte, die eurozentrisch-weiße Perspektiven bevorzugende Lehrpläne, um Machtverhältnisse sichtbar zu machen. Beckel wirbt für eine geschlechtergerechte Sprache, um Stereotype abzubauen … Die kleine Blütenlese stellt nur eine Kurzfassung der Fülle an neu fundiertem Altbewährtem sowie im 21. Jahrhundert zu Ergänzendem dar. Alle Artikel gehen von den Entwicklungsaufgaben im Jugendalter aus, die unter dem Gesichtspunkt des jeweiligen Themas immer wieder neu beleuchtet werden.

Mit diesem Kompendium, das auch Eltern empfohlen werden kann, liefern die Autor*innen eine breite Übersicht zur Mittel- und Oberstufe für Waldorf-Neulinge; Altgediente ziehen ebenfalls Gewinn durch neue Gesichtspunkte.

Für einen Folgeband wünschte ich mir, anknüpfend an anthroposophische Jugendimpulse, eine Vertiefung zur Weiterentwicklung der Waldorfpädagogik: etwa Erfahrungen einer verbesserten Tagesstruktur, die weg vom 45‑Min.-Korsett führt, Epochalisierung z. B. in Fremdsprachen, Peer-to-Peer-Learning und andere Partizipationsformen für Jugendliche, Projektunterricht, fachübergreifender Unterricht (über die Andeutungen von Rohde hinaus), neue Impulse im handwerklichen Unterricht, Praktika, außerschulischer Lernort, Gesprächsführung, (Selbst‑)Erziehungspartnerschaft in der Oberstufe, der in jeder Schule jetzt aufzustellende Code of Conduct … Außerdem werden im hier anzuzeigenden Band Themen angerissen, die – zumindest für das Jugendalter – unterforscht sind und nun der Vertiefung bedürfen, etwa Inklusion (Barth) oder das gute alte Epochenheft (Becker).

Angelika Wiehl, Frank Steinwachs: Studienbuch Waldorf-Jugendpädagogik, 319 S., kart., EUR 21,90. UTB 2022.

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