Van Gogh – Cezanne – Picasso – Kandinsky

Gabriele Hiller

Über den »idealen Kunstkritiker« schrieb Kandinsky: »Der ideale Kunstkritiker wäre [...] der, welcher zu fühlen suchte, wie diese und jene Form innerlich wirkt, und dann sein Gesamterlebnis dem Publikum ausdrucksvoll mitteilen würde«.

Zeitlich berühren sich die Biografien der beiden: Kandinsky ist 1944 gestorben, Bockemühl wurde 1943 geboren.

Jedes dieser in Inhalt und Gestaltung hervorragenden Bücher hätte eine eigene Vorstellung verdient. Allein die unterschiedlichen Hinführungen breiten das unergründliche und unabschließbare Thema Sehen und dessen Erkenntnispotenzial reichhaltig aus. Wie erweitere und schule ich mein Sehen, damit es ein geeignetes Instrument wird, Kunst aufzunehmen und sich von ihrer Wirkung ergreifen zu lassen? Ein Schatz an Zitaten und Abbildungen sowohl der Werke als auch der Künstler-Persönlichkeiten bereichert jeden Band. Ich lese inzwischen zuerst die Nachworte der an der Herausgabe beteiligten Studenten David Hornemanns, weil sie bezeugen, dass dieser vor rund 27 Jahren formulierte und praktizierte Betrachtungsansatz gerade für junge Menschen aktuell ist.

Bockemühl gelingt es auf meisterhafte Art, den Werken die Herangehensweise ihrer Schöpfer abzulauschen, als sprächen diese selbst. Hierfür müssen wenige Hinweise zu den vier Künstlern genügen. Im Band 4 über van Gogh schafft es der Autor bereits auf den ersten Seiten, einem das gerade diesem Künstler gegenüber zum Klischee geronnene Wissen samt der daraus entstandenen Sehgewohnheiten »wegzugreifen« ( Didi-Huberman). Anschließend entfaltet er am Bild, wie geheimnisvoll und intensiv es van Gogh vermag, durch seine Motivwahl und farbige Pinselschrift Sehbewegungen anzuregen, die die Gestalt und Gebärde eines Dings offenlegen und das Bild zu einem Innenerlebnis des Betrachters werden zu lassen.

Den Höhepunkt für mich persönlich stellt Band 5 über Cezanne dar, da ich selbst kaum einen Künstler und seine Bilder länger und gründlicher studiert habe und dadurch aufs Höchste bewundere, bis zu welcher Tiefe und Klarheit Bockemühl hier seine Bildbetrachtung führt. Wie es ihm gelingt den »Doppelprozess von Bildung und Entbildung« im Gemälde und beim Betrachter in Worte zu fassen und bis an, ja über die Grenze des in Sprache zu Fassenden hinaus vorzudringen in philosophische Bereiche und dies alles am Bild erleben zu lassen: »Das sind Beobachtungen, die Sie niemandem erzählen können! Das kann man [...] nur selbst erleben. Und Sie kommen jetzt an den Punkt, mit dem die Ästhetik steht und fällt: Ästhetik kann gar keine Lehre sein! Ästhetik ist ein Bewusstmachen eigener Erfahrung.«

Picasso wird in Band 6 als Künstler der Fülle geschildert, der nahezu ein Jahrhundert überspannt. Bockemühl nähert sich ihm auf drei Wegen, dessen letzter bewusst einen Bruch mit den bisher angewendeten Wegen bedeutet, indem hier erklärt, ja scharf gedeutet wird und das Gemälde an den Rand einer Illustration gerät. Das mag einerseits befriedigend sein, angesichts dieser klar mythologischen Motive hinterlässt es aber auch leises Unbehagen.

In Band 7 zu Kandinsky steht zunächst ein einziges Gemälde, »Komposition IV« von 1911 im Fokus und wird hinsichtlich Form, Farbe und Motiv auf dreierlei Weise betrachtet. Wie es Bockemühl anschließend gelingt, diese Einzelaspekte als komplexes Spannungsgefüge zu einer »Sinnganzheit« (Gottfried Böhm) zu führen, ist atemberaubend! Auch auf das rätselhafte Spätwerk wirft er abschließend einen erhellenden Blick.

Preiswerter kann man seinen eigenen Horizont, was Kunsterleben und -verstehen betrifft, nicht erweitern und sogar vermeintlich fest gesichertes Wissen überprüfen! Auch für jeden Kunstlehrer und Museumsfreund bietet die Reihe methodisch abwechslungsreiche und immer zum Werk passende Anregungen, wie man eine Werkbetrachtung lebendig gestalten kann.

Wer über das Gesamtprojekt Näheres erfahren möchte, sei auf die im WDR 5 ausgestrahlte fast einstündige Sendung »Das philosophische Radio« vom 23. August 2019 verwiesen, in der David Hornemann im Gespräch mit Jürgen Wiebicke lebendig über das Projekt berichtet.

Michael Bockemühl: Vincent van Gogh. 80 S.; ders.: Paul Cézanne, 96 S.; ders.: Pablo Picasso. 96 S.; ders.: Wassily Kandinsky. 88 S., Reihe KUNST SEHEN Bd. 4 – 7, brosch., Preis pro Band EUR 16,80 (Preis im Abonnement EUR 14,80), brosch., Frankfurt 2018/2019

Hinweis: Van Gogh-Ausstellung im Städelmuseum in Frankfurt (bis zum 16. Februar). Online finden Sie eine Besprechung von Oscar Scholz.