Sachbuch

Zeit ist Klang

Reinhild Braß

Martin Tobiassen ist es gelungen, das weite Feld des Klanges aufzufächern und dem Leser aufzuzeigen, wie das Verhältnis von Musik und Klang vor allem im letzten Jahrhundert begonnen hat, sich zu verschieben und zu verwandeln. Sehr berührt hat mich, wie Tobiassen beschreibt, wie mit der Veränderung unseres Verhältnisses zum Klang, mit der Wandlung unseres Harmonieempfindens eine neue Zeit angebrochen ist. Der Beginn des letzten Jahrhunderts hat nicht nur in der Malerei ein neues Sehen, sondern auch in der Musik ein neues Hören gefordert. Dadurch sind Fragen entstanden, die im 19. Jahrhundert so noch gar nicht gestellt wurden: ist das noch Musik, ist das keine Musik mehr, ist das Klang oder Musik oder gar nur Geräusch, ist Geräusch auch Musik? Wo führt uns das alles hin?

Die Suchbewegungen in der Musikszene verweisen auf ein neues Erlebensplateau, die allgemein steigende Aufmerksamkeit auf die Sphäre des Klanges deutet auf eine tiefgreifende Veränderung unseres gesamten Lebensgefühls hin. Diese Umbrüche und Entwicklungen in der Musik sind anzuschauen, zu beschreiben und zu bewerten. »Zeit für Klang« oder »Klang unserer Zeit« – das beschreibt Tobiassen in seinen Abhandlungen ausführlich, selbst erlebt, erlitten und »durchfreut«, weshalb man ihm gern folgt.

Für jeden Musiklehrer, jeden Musiker und Musikfreund und auch Laien ist dieses Buch ein Gewinn. Sicher wird man es nicht in einem Zug durchlesen, dafür ist es zu vielfältig und fordert, dass man mitdenkt und mitfühlt. Es wäre gut, sich Zeit für diesen Klang zu nehmen! Dieses Buch birgt eine großartige Vervollständigung der bisherigen Literatur über das Hören.

Wenn man bedenkt, dass die Forschungen zum Thema Hören durch den französischen HNO- Arzt Dr. Alfred Tomatis erst ihren eigentlich Anfang 1945 genommen, dann durch die Werke von J.E. Berendt in den 80er Jahren einen neuen Impuls bekamen, so ist dieses Buch weitere 40 Jahre später ein neuer Meilenstein. Tobiassen fasst zusammen, beleuchtet neu, würdigt das Werk Carl Orffs und ebenso das eines seiner Verehrer: Dr. Julius Knierim. Beiden war die Volkspädagogik ein großes Anliegen, also anspruchsvolle Musik auch denen zugänglich zu machen, die nicht jahrelang ein Instrument geübt oder eine sonstige Vorbildung haben. Musik ist eine Angelegenheit aller Menschen, und durch ihre Ansätze – sowohl im Orff’schen Schulwerk als in den Anregungen von Knierim – sind Wege aufgezeichnet, die eigenen schöpferischen Quellen zu eröffnen.

Tobiassen beschreibt den neuen Instrumentenbau, insbesondere die aus den Anregungen Rudolf Steiners hervorgegangenen Impulse: Franz Thomastik und die Weidler-Streichinstrumente, die Leier und die Choroi-Instrumente sowie die neuartigen Bleffert-Instrumente und weitere finden gebührenden Raum. Er nennt und würdigt Norbert Visser, dessen Schriften zum Tongeheimnis im Menschen, des Raumes und der Materie sowie die Schrift zur Musik des 20. Jahrhunderts und der Zukunft der Musik noch einer gründlichen Aufarbeitung harren. Auch mit der Elektroakustik setzt sich Tobiassen auseinander. Es gelingt ihm, die Zusammenhänge ohne voreilige Wertung klar zu beschreiben.

Es folgt der Blick auf die pädagogische Praxis in der Schule und eine neue Klang-Pädagogik. Der Autor beschreibt aus der eigenen Tätigkeit als Musiker in Waldorfschule und Lehrerbildung, wie Schüler von der ersten bis zur zwölften Klasse vor allem durch improvisatorische Übungen in die Welt des Klangs eingeführt werden können. Viele methodische Anregungen werden den suchenden Lehrern an die Hand gegeben.

Alles gipfelt in dem Kapitel »Pädagogik als zeitgenössische Kunst und die klingende Schule«. Zitat: »Den Kindern und Jugendlichen beim schrittweisen Finden der eigenen Quellen zur Seite zu stehen und den jeweiligen Zugang lebendig und offen zu erhalten, ist nun gerade die allererste Aufgabe der Pädagogik. Wissens- und Fähigkeitsvermittlung sind dazu Medien […] in dem Sinne, wie man energisch am Klang arbeitet, damit das Tonwesen bzw. das melos sich darin entfalten kann.«

Wer sich also für Klang, für Improvisation, neue Instrumente, Gedanken über Klang und Musik, Fragen zur Pädagogik und ihrer praktischen Verwirklichungen in der Schule interessiert und neue Wege in der Musikpädagogik sucht, der kann an diesem Buch nicht vorübergehen.

Martin Tobiassen: Zeit für Klang. Anregungen und Hintergründe zum Umgang mit klanglichen Mitteln und neuen Instrumenten im Schulzusammenhang und darüber hinaus, Softcover,195 S., EUR 24,–, Pädagogische Forschungsstelle Kassel, Kassel 2021

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