Ausgesprochen wurden sie von einer 17-jährigen Schülerin der Waldorfschule Harduf im Norden Israels, kurz nachdem im Sommer 2014 die israelische Armee nach einem anhaltenden Raketenbeschuss vor allem durch die Hamas in den Gaza-Streifen einmarschiert war.
Die Zwölftklässlerin wusste, dass auch sie in wenigen Monaten mit allen anderen jüdischen Schulabgängern zu ihrem zweijährigen Militärdienst eingezogen werden würde.
Gehört wurden diese Worte am Himmelfahrtswochenende 2014 anlässlich eines Treffens der Internationalen Konferenz der Waldorfschulen (Haager Kreis), der Lehrer und Erzieher aus allen Kontinenten angehören. Als wir anschließend auf das bevorstehende Jubiläum der Waldorfpädagogik im Jahr 2019 zu sprechen kamen, war sofort klar, dass es dabei nicht um einen mehr oder weniger selbstzufriedenen Rückblick, sondern um die großen Fragen unserer Zeit und die Aufgaben der Zukunft gehen müsse.
Es zeichnete sich damals schon ab, dass wir es nach einer Zeit, in der zumindest der wohlhabende Teil der Menschheit im Großen und Ganzen von der Hoffnung auf eine weltumspannende, solidarische Zusammenarbeit getragen wurde, mit neuen Spannungen, Ängsten, Mauern, politischen, ideologischen und religiösen Konflikten zu tun bekommen würden, in der viele sicher geglaubte Errungenschaften auf eine harte Probe gestellt würden. Und es war klar, dass im Mittelpunkt der Krisen und Lösungen immer der Mensch steht.
Von Wilhelm-Ernst Barkhoff, dem Gründer der GLS Gemeinschaftsbank, stammt der Satz: »Die Angst vor einer Zukunft, die wir fürchten, können wir nur überwinden durch Bilder einer Zukunft, die wir wollen.« – Auch unsere israelischen Freunde erzählten uns, dass mit der Gründung der Waldorfschule in Harduf von Anfang an das Ziel verbunden war, unser zur Abstraktion fähiges Denken, dem wir unsere Unabhängigkeit verdanken, mit einer so lebendigen Bildhaftigkeit zu durchdringen, das wir dadurch neue, tiefere Verbindungen mit der Welt und anderen Menschen einzugehen lernen. Das sei eine der wichtigsten Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten.
Lässt man die oben zitierten Worte der Schülerin auf sich wirken, fügen sie dem lebendigen Denken noch etwas hinzu: aus realen Begegnungen mit Menschen geschöpften Mut, das uns alle verbindende Mensch-Sein für viel, viel wesentlicher zu halten als Abgrenzungen, die sich von der Geburt, der Religion, der ethnischen Zugehörigkeit, von kulturellen oder gar politischen Bedingungen ableiten lassen.
Solche Gesichtspunkte standen also am Anfang von Waldorf 100. Dabei besannen wir uns auf ein Bild, das Rudolf Steiner 1919 in seinem ersten Vortrag für die künftigen Lehrkräfte gegeben hat: Wie ihre lebendigen Gedanken im gegenseitigen Austausch zu einer »Schale des Mutes« werden können, in die sich die tiefsten Impulse und Notwendigkeiten unserer Zeit hineinsenken und die gemeinsame Arbeit inspirieren können – und wie die uns begleitenden Engelwesen uns dabei helfen. Es ging also um das lebendige Denken jedes Einzelnen und den Mut, das als notwendig Erkannte nicht nur herbeizuwünschen, sondern tatsächlich auch zu tun.
Dafür brauchen wir heute Mut – nicht weniger als 1919, der Zeit des Neuaufbaus nach dem verheerenden Ersten Weltkrieg. Die Frage nach einem Denken, das imaginativ vorausdenken kann, wie unsere Handlungen die Welt verändern, die Frage nach der Fähigkeit, uns von dem inspirieren und leiten zu lassen, was wirklich gebraucht wird in der Welt und die Frage nach der Bereitschaft, mit unseren Investitionen nicht nur irgendeinem Profit nachzujagen, sondern positive, menschenfreundliche Entwicklungen anzustoßen, ist ohne Mut nicht zu beantworten.
Was bedeutet das für die Erziehung und für die Schule in einer Welt, die von uns Erwachsenen gestaltet wird? Wie können wir eine Umgebung für die Kinder schaffen, in der sie sich mit allen ihren Sinnen mit der Welt verbinden können, in der sie ihre eigenen Kräfte spüren und entwickeln können, in der sie ihre Gefühle zu Wahrnehmungsorganen für das Sein von anderen ausbilden können, in der sie Vertrauen in ihr eigenes Denken entwickeln und, nicht zuletzt, in der Fehler erlaubt sind und Kinder auch von einem Baum herunterfallen dürfen? Wie überwinden wir die schon viel zu lange für selbstverständlich gehaltene Idee, Schule sei dazu da, Kinder auf von der Wirtschaft, der Politik oder irgendwelchen Ideologien vorgegebene Ziele hin zu erziehen? Wie bekommen wir stattdessen echtes Lernen in unsere Schulen, ein Lernen, das auf dem Zusammenwirken der körperlichen, seelischen und geistigen Konstitution der Kinder basiert, statt sie auf ihr Gehirn und ihre Muskeln zu reduzieren? Wie bereiten wir sie wirklich vor auf ein Leben in einer Welt, die sich immer schneller verändert?
Waldorf 100 ist ein weltweiter Versuch, über diese Fragen ins Gespräch miteinander zu kommen. Allein in diesem Jahr hat es dazu Kongresse in fast allen Ländern Europas, in Kenia, den USA, Taiwan, Thailand, Argentinien, Australien, Brasilien gegeben, bei denen sich Waldorfpädagogen aus der ganzen Welt ausgetauscht und inspiriert haben. Viele Schulen haben ihre Konferenzarbeit mit diesen Fragen neu belebt, es gab Schülertagungen, Elterntagungen und unzählige Begegnungen mit Menschen, die aus ganz anderen Impulsen an ähnlichen Fragen arbeiten. Es finden unzählige große und kleine Ereignisse in den 1.200 Waldorfschulen auf der ganzen Welt statt, an denen die Kinder, die Eltern und die Kollegien beteiligt sind. Daraus kann eine nachhaltige Kraft für die Zukunft entstehen, die unsere Welt
so dringend als menschliche Gemeinschaft braucht. Sie kann Ausgangspunkt werden für eine Intensivierung der Zusammenarbeit rund um die ganze Welt. Das ist der schönste Jungbrunnen, den es überhaupt gibt, denn das können nur Pioniere!
Henning Kullak-Ublick ist Vorstandmitglied im Bund der Freien Waldorfschulen und leitet dessen Öffentlichkeitsarbeit in Hamburg.