schtzngrmm

Johannes Schneider

Die Poetik-Epoche der 10. Klasse fördert die kreative Auseinandersetzung mit der Muttersprache. Sie ist Teil eines ästhetischen Themenstranges, der sich von der Kunstbetrachtung in der 9. über Musik und Malerei in der 11. bis zu Architektur und sozialer Plastik in der 12. Klasse zieht.

Die Sprache gehört zum Selbstverständlichsten, das wir kennen, beherrschen und täglich anwenden. Träumerisch lernen wir schon in der Kindheit mittels unserer leiblichen Organe, Sprache zu artikulieren, unser Seelenleben mit den Dingen zu verbinden und sogar rein gedankliche »Gegenstände« zu handhaben. In der Schule verfeinern wir eigentlich nur noch, was wir längst praktisch beherrschen, was analysiert ganze Lehrbücher füllt und uns befähigt, mit anderen Menschen zu kommunizieren, Macht auszuüben oder heilend zu wirken – um nur wenige Beispiele zu nennen. Die Faszination für diese Tatsache zu wecken, kann ein Motiv der Poetik-Epoche sein. Daneben steht aber vor allem ein Ziel: sich in der Sprache zu beheimaten. Das mag verwundern, wurde doch gerade die Sprache als das Selbstverständlichste bezeichnet, das uns im Leben seit frühen Kindestagen eigen ist.

In der 10. Klasse gelangen die Jugendlichen jedoch an einen Punkt, an dem aus der umfassenden Rebellion gegen alles, was nicht Ich ist, die Erkenntnis reift, dass der Bestimmung von außen nicht zu entkommen ist, zugleich aber im Inneren eine Schöpferkraft wächst, die mit jener Bestimmung kreativ umgehen kann.

Beheimatet in der Sprache

Die Sprache kann als ein Feld betrachtet werden, auf dem die Saat dieser Ich-Welt-Beziehung im Leben aufgeht. Sie ist dafür besonders geeignet, weil sie allgemein zugänglich und verständlich ist, uns mit den Menschen unserer Sprachgemeinschaft verbindet und gleichzeitig die Möglichkeit bietet, uns so individuell wie nur irgend denkbar auszudrücken. Jugendliche spüren das intuitiv, wenn sie in diesem Alter zum Beispiel das Tagebuchschreiben entdecken, Gedichte verfassen oder in Lesewelten abtauchen. »Sich in der Sprache beheimaten« könnte dann heißen, das Selbstverständliche neu zu entdecken, sich bewusst dessen Vielfalt anzueignen und diese souverän handhaben zu lernen. Gelingt dieser Schritt in Ansätzen, kann er als Fundament für die ganze Oberstufe dienen, im besten Fall sogar für das ganze Leben; denn letztlich geht es im Deutsch-Unterricht doch um nichts anderes.

Ein Ansatz in der Poetik-Epoche geht von dem aus, was die Schüler bereits kennen und können. Dieser Einstieg kann Erlebnisse aus dem rhythmischen Teil des Unterrichts, dem Klassenspiel oder aus Erzähl- und Leseerfahrungen umfassen und zu einer ersten Reflexion führen, in welchen Formen sprachlicher und schriftlicher Ausdruck überhaupt möglich ist: Goethe prägte beispielsweise für die »Naturformen der Poesie« die Unterscheidung zwischen »klar erzählender« (Epik), »enthusiastisch aufgeregter« (Lyrik) und »persönlich handelnder« Sprache (Drama). Daneben nicht zu vergessen: nichtfiktionale Sachtexte wie Berichte und Protokolle. Davon ausgehend ließe sich ein ausgewogener Spaziergang auf den poetischen Feldern machen und alle Bereiche könnten aufgegriffen und beackert werden. Es liegt jedoch nahe, einen Schwerpunkt auf die Lyrik zu legen: Denn zum einen bietet sie eine hervorragende Möglichkeit der Frage näher zu kommen, was Sprache eigentlich ist; zum anderen lassen sich in der kreativen Auseinandersetzung mit ihr analytische Begriffe entwickeln, die eine Grundlage für die Interpretationsaufgaben der folgenden Schuljahre bilden.

Geräusch oder schtzngrmm

Die Verwunderung zu Beginn einer solchen Epoche, wenn man als Lehrer zunächst auf drei Minuten absoluter Stille beharrt, während der differenziert gehört werden soll, welche Laute die Umgebung (bei geöffneten Fenstern und Türen) erfüllen, wandelt sich rasch in das Verständnis, dass alles, was wir hören, eigentlich »nur« Geräusche sind, die wir allerdings im Alltag unbewusst auseinanderhalten: Rauschen, Zwitschern, Lachen, Schritte, Rascheln, Husten, das Kreischen einer Säge, Gesprächsfetzen, Krachen … Dass Sprache etwas mit Ordnung zu tun hat, eine bewusste Steuerung zur Übermittlung von Bedeutung verlangt und sich dadurch von technischen und »natürlichen« Geräuschen unterscheidet, erkennen Jugendliche ganz von selbst. Doch wie funktioniert diese Übermittlung? Woher weiß ich, wo und wie ich ein »f« bilde, und worin besteht der Unterschied gegenüber einem »r«? In solchen Selbsterkundungen, die zu Zeichnungen werden können, kann man sich weiter über wunderbare phonetische Selbstverständlichkeiten aufklären.

Staunen stellt sich auch ein, wenn untersucht wird, welche Laute nötig sind, um Sprache zu artikulieren: Mittels verschiedener Lautgedichte, wie etwa Jandls konsonantischem schtzngrmm (siehe Abbildung) oder seinem berühmten vokalischen ottos mops, kann ein Gefühl dafür vermittelt werden, was sich bereits mit sehr beschränkten lautlichen Mitteln darstellen lässt und welche Qualitäten sich in den einzelnen Vokalen aussprechen. Das lässt sich besonders an eigenen lyrischen Versuchen erproben, beispielsweise Variationen über Jandls Texte almas katz oder peters pferd: Kreativität ist in dieser Epoche immer erste Wahl und die Scheu vor der eigenen Produktion verliert sich schnell, wenn klar wird, dass es hier nicht bessere oder schlechtere Gedichte gibt, sondern die qualitative Erfahrung zählt.

Kniffliger wird es, wenn der aus Konsonanten und Vokalen zusammengesetzte Charakter der Sprache ins Auge gefasst wird: Dass der Sprache ein natürlicher Rhythmus, eine Melodie innewohne, ist zwar durch bewusste Betonung einzelner Silben nachvollziehbar; auch warum die Segmen- tierung in Silben und Wörter ein Weg ist, um Bedeutung zu vermitteln. Wie diese rhythmische und tonale Gliederung – die Musikalität der Sprache – unbewusst verwendet, aber auch gezielt eingesetzt wird und welche Qualitäten sich dadurch ergeben, ist für viele Jugendliche jedoch nicht mehr so einfach nachzuvollziehen und verlangt einige Übung. Eurythmische Erfahrung erweist sich dabei als großer Schatz! Auch hier führt der Weg über die Wahrnehmung und das Empfinden: Während sich bei »Und frische Nahrung, neues Blut / Saug’ ich aus freier Welt / Wie ist Natur so hold und gut, / Die mich am Busen hält!« (Goethe, Auf dem See) sofort eine frische, beschwingte und heitere Stimmung einstellt, ist bei »Hör, es klagt die Flöte wieder, / und die kühlen Brunnen rauschen! / Golden weh’n die Töne nieder, / stille, stille, lass uns lauschen!« (Brentano, Abendständchen) das Gegenteil der Fall: nachdenklich, melancholisch und ruhig sind hier die Empfindungen.

Über solche und weitere Erfahrungen können Begriffe wie Betonung, Versmaß, Reim und Strophe spielerisch eingeführt und in kreativen Aufgaben geschult werden, ohne dass sie als langweilige Formalien auffallen: Wenn eine Schülerin, die ein möglichst ähnliches Parallelgedicht zu Uhlands »Herbstglaube« mit dem Titel »Frühlingsglaube« schreiben möchte, fragt, ob sie statt des durchgehenden Trochäus ihre Version im Jambus schreiben dürfe, hat sie offensichtlich ein qualitatives Empfinden für den Zusammenhang von Form und Inhalt entwickelt.

Die Blüten der Lyrikwerkstatt, beispielsweise in Form von Lücken-, Fortsetzungs-, Ergänzungs-, Parallel- und Gegengedichten, Parodien oder eigenen Texten, führen zu einem Reichtum an Spracherlebnissen und es erfreut sich die Erkenntnis besonderer Beliebtheit, dass Bildhaftigkeit und uneigentlicher Sprachgebrauch (Metaphorik) im Alltag eine viel größere Rolle spielen, als wir uns für gewöhnlich bewusst sind. Vor allem die Jagd auf Metaphern wie »Flaschenhals«, »Baumkrone«, »Wasserhahn« oder »begreifen« ist garantiert ein Selbstläufer, ebenso wie rein metaphorische Texte, die jeder frei zu einer Geschichte oder einem Gedicht spinnen darf – wie beispielsweise: »Rosa schien eine Laus über die Leber gelaufen zu sein, denn als ich ihr nahe legte, dass ich mein Herz an sie verloren hätte, ließ sie nur die Worte fallen: ›Du spinnst wohl! So ein Reinfall!‹ – Und ließ mich kalt abblitzen …«.

Metamorphosearbeit

Ein weiterer Höhepunkt unserer Poetik-Epoche sind Gedicht-Metamorphosen, die die Schüler frei gestalten dürfen. Die einzige Vorgabe, die ich als Lehrer dazu mache, ist, dass sich jeder im Lauf der ersten Woche ein etwas anspruchsvolleres Gedicht mit mindestens vier Versen aussuchen soll, das er in irgendeiner Form verwandelt. Dazu bringe ich alle Lyrikbände mit ins Klassenzimmer, derer ich habhaft werden kann und die man ausleihen darf. Alles ist erlaubt: eigene Texte anzuknüpfen, Bilder, Comics oder Collagen anzufertigen, Filme zu drehen, den Text zu vertonen, Vertontes vorzutragen, klassisch zu interpretieren – die eigene Kreation muss sich lediglich auf das Ursprungsgedicht beziehen und die Metamorphose reflektiert und dokumentiert sein.

Jeder stellt dann im Lauf der zwei letzten Wochen in etwa zehn bis fünfzehn Minuten sein Gedicht samt Verwandlung vor, und es ist immer wieder ergreifend, mit welchem Ernst, mit welcher Hingabe und Freude sich die Jugendlichen auf individuelle Weise mit Lyrik verbinden und welche Seiten des Menschen man in der freien Aus­einandersetzung mit gestalteter Sprache kennenlernt.

Entsprechend bleibt die große Hoffnung, dass diese einzigartige Begegnung mit den »Bildekräften der Dichtung« (Schirmer) eine Saat enthält, die Wurzeln schlägt und über die Jahre der Oberstufe nicht nur für die Lyrik Früchte trägt, sondern möglicherweise durch Selbstsicherheit und Erfahrungsreichtum im Umgang mit der eigenen Sprache einer Beheimatung in der Welt dienlich ist. ‹›

Zum Autor: Dr. Johannes Schneider unterrichtet die Fächer Deutsch und Freichristliche Religion/Ethik an der Tübinger Waldorfschule.

Literatur: J. L. Austin: Zur Theorie der Sprache (How to do things with words), Stuttgart 1972; H. Schirmer: Bildekräfte der Dichtung. Zum Literaturunterricht der Oderstufe, Stuttgart 1993