Wurden in den bisherigen Darstellungen überwiegend Künstler:innen der klassischen Moderne behandelt, wenden sich die neuen Bände nun der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu: dem amerikanischen abstrakten Expressionismus, Joseph Beuys und Cy Twombly, die die Betrachter:innen jeweils stark und dazu extrem unterschiedlich herausfordern.
Kann es gelingen, in einer Vorlesung die drei Giganten der Farbfeldmalerei, Mark Rothko, Barnett Newman und Ad Reinhardt vorzustellen und ihre Werke zugänglich zu machen – Werke, die einer erhöhten Aufmerksamkeitsschwelle mit aktiver Verlangsamung und Verlängerung der Betrachtungszeit bedürfen? Unbedingt! Der Vorgang der Anschauung selbst tritt ins Bewusstsein des Betrachters und ergreift ihn, während er die Bilder auf sich wirken lässt.
Bockemühl gelingt es mit seinem flexiblen Vorlesungsstil Zugang zu schaffen zum jeweiligen Werk: Bei Reinhardt beschreibt er den Malprozess und schildert, wie im Verweilen vor dem zunächst schwarzen Bild Unsicherheit sich zum Einsamkeitserlebnis verdichten kann: Ich bin mit meiner Erfahrung allein.
Rothkos Bilder, die »ausschließlich in der Wirkungsmacht ihrer Farbe« existieren und sich begrifflicher Festlegung entziehen, führen den Betrachter in einen unabschließbaren Prozess der Veränderung, bis zur Gefahr der Selbstauslöschung in Hingabe an das Bild.
Bei Newmans Bildzyklus »Who is afraid of Red, Yellow and Blue« findet durch das große Format und die Farbdichte eine Konfrontation und Überwältigung statt: Ich stehe vor einer Wirkmacht, der gegenüber ich mich nur unter Anspannung meiner Persönlichkeit behaupten kann. Dadurch spüre ich, dass ich da bin; eine einzigartige Ich-Erfahrung vor dem Bild.
Die Vorlesung 14 zu Joseph Beuys ist besonders umfangreich, fast ein Studienbuch mit detailgenauen Schilderungen der Betrachtungsvorgänge an einzelnen Zeichnungen und Objekten. Eingangs schildert Bockemühl das Grund-Dilemma im Umgang mit Beuys, das dieser selbst befördert habe: Ihn zu vereinnahmen, a priori zum Meister zu erheben und seine Kunst euphorisch zu erklären oder ironisch-ratlos bis abwertend zu kommentieren. Beides stößt ab. Wo bleibt das eigene sinnliche Erleben?
Ausgehend von der Frage, welche Rolle die Idee bei Beuys spielt und ob bzw. wie sie im Werk realisiert wird, wählt Bockemühl drei Zugänge:
Das Sinnliche – was ist sinnlich erfahrbar an den Zeichnungen und Werken?
Die Tat: Was zeigt sich in den Aktionen und Gesprächen – wie gelangt er vom Willen zum Vollzug, zur Tat?
Das Mal: welche Rolle spielt das Werk, das ja oft aus Relikten der Aktionen besteht oder entsteht und das dem Betrachter oft wie verwaist vorkommt, wenn er es im Museum erblickt, weil der vermittelnde Akteur fehlt?
Beuys gelinge es, so Bockemühls Fazit, »die Tatseite und die Ideenseite im Leben als Kunst zu verbinden«. Die Sprache als Vermittlerin gelangt vor Beuys’ Werken rasch an ihre Grenzen und gerade hier zeigt sich die Bockemühlsche Spiel- und Ideenfreude in ihrem ganzen Potential: Immer frisch und kreativ zu sein in der Herangehensweise, humorvoll, assoziativ, einfühlsam und nicht in die Erklär-Falle zu tappen. Live dabei gewesen zu sein am 18. Mai 1993 im Saalbau Witten wünscht sich der Leser dieses Bandes! Eine Fülle an zeitgemäßen Wegbahnungen zur Betrachtung der Werke des Universalisten Beuys liegt damit vor. Ob man als Leser:in dabei den Fokus stärker auf den Inhalt oder auf die Methode richtet oder beides im Blick hat – man wird in jedem Fall beschenkt.
Michael Bockemühl, Kunst sehen, Band 12: Mark Rothko, Paul Newman, Ad Reinhardt; Band 14: Joseph Beuys. Klappenbroschur, Frankfurt a.M. 2021-2022, je 16,80 Euro.
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