In Gesprächen unter Fachkollegen herrscht weitgehender Konsens, weiterhin Mobilität und Kommunikation als Leitthemen beizubehalten, hat es sich doch ausgesprochen bewährt, wenn pubertierende Jugendliche die technische Zivilisation durchschauen lernen, die sie umgibt. Sie können so die Zeit und Gesellschaft, in der sie leben, als intelligent organisiert erfahren. Ihre Urteilskraft, die manch eruptive Äußerung hervorbringt, wird in geordnete Bahnen gelenkt, während sie sich zugleich als Zeitgenossen fühlen.
Allerdings muss heute das analoge Telefon durch digitale Signalübertragung – insbesondere über Glasfaser – ergänzt werden. Auch müssen Schüler durchschauen, wie es möglich ist, mehrere tausend Telefongespräche zeitgleich über dieselbe Glasfaserleitung zu übertragen.
Es geht im Physikunterricht – so der Konsens der physikdidaktischen Community – darum: Dem individuellen Bedürfnis der Schüler, mit Interesse neuen Beobachtungen begegnen zu dürfen, um daraus Gesetzmäßigkeiten ableiten zu können, Rechnung zu tragen (Wiesner et al 2011). Der Unterricht muss aber auch so aufgebaut sein, dass er an ein naturwissenschaftliches Studium anschlussfähig ist, sodass der gesellschaftliche Bedarf an Ingenieuren gedeckt und ein basales Verständnis der Leittechnologien als Allgemeinwissen vorausgesetzt werden kann.
Als Waldorfpädagoge nehme ich allerdings eine spezifische Haltung ein, wenn es gilt, individuelle Bedürfnisse und gesellschaftlichen Bedarf auszubalancieren. Diese Haltung kann als eine Form des Vertrauens in die junge Generation beschrieben werden: Schüler können, indem sie sich entwickeln, in das gesellschaftliche Leben so viel Frische und Unbefangenheit hineinbringen, dass sich die Gesellschaft als Ganzes nicht nur verjüngt, sondern auch weiterentwickelt. Die Gesellschaft bedarf der Jugendlichen, die voller Bedürfnis danach sind, sich zu entwickeln. Das muss der Lehrplan nicht nur unterstützen, sondern auch konkretisieren. Und das mag im Einzelfall fordernd und voller Ambiguitäten sein.
Um meine Positionen zu präzisieren, gehe ich von einer fiktiven Schülerin aus, die vielleicht in fünf Jahren in die Oberstufe einer Waldorfschule kommt, also derzeit eine vierte Klasse besucht.
Optionale Vertiefungswege anbieten
Die Viertklässlerin ist ein freudiges und aufgewecktes Mädchen, keine Hochbegabte und nicht sehr brav, sie ist weder besonders auffällig noch besonders unauffällig. Sie hat ein Elternhaus, das pragmatisch mit den Unwägbarkeiten des Lebens umgeht und keine offenen Rechnungen mit der Schule hat. Sie kommt mit Rechnen und Schreiben zurecht und wird es in den nächsten Jahren in Ordnung finden, dass sie grammatische Strukturen in ihrer Muttersprache und den Fremdsprachen kennenlernt, wie sie auch fraglos akzeptieren wird, dass sie der Mittelstufenunterricht zunehmend zum Nachdenken anregt.
Sie wird in ihrem Physikunterricht von kompetenten Lehrkräften unterrichtet und kann so von den Stärken des Lehrplans profitieren: In der 6. Klasse lernt sie, was man in der Elektrizität als Spannung bezeichnet, in der 7. Klasse kommt eine neue fundamentale Größe, der Strom, hinzu. Dadurch, dass Spannung und Strom in unterschiedlichen Jahrgangstufen eingeführt werden, kann sie deren Verschiedenheit realisieren. Gleichzeitig lernt sie den Strom als System kennen, bei dem ein geschlossener Leiterkreis die Bedingung dafür darstellt, dass chemische Prozesse in der Batterie mit dem Leuchten einer Lampe gekoppelt sind. Darüber staunt sie, während sie zusammenfassende Grafiken in ihr Epochenheft überträgt. In ihren Hausaufgaben kann sie Spannung und Strom in verzweigten Leiterkreisen richtig angeben. Sie wird von den Stärken eines phänomenologischen Physikunterrichts profitieren, da ihre Lehrkraft das entsprechende Material kennt und entsprechende Fortbildungen besucht hat.
Die fiktive Schülerin wird in der 11. Klasse – das ist das Jahr 2028 – an ihrer Waldorfschule Wahlpflichtangebote antreffen. Es sind Vertiefungswege, die sie frei wählen kann. Diese Unterrichte werden zusätzlich zu den bewährten Hauptunterrichtsepochen als optionale »Zweit-Epochen« angeboten. Sie kann zwischen kulturkundlichen, naturwissenschaftlichen und künstlerischen Schwerpunkten wählen. Weil sie irgendwie nicht weiß, was sie am liebsten möchte, wählt sie mehr zufällig den naturwissenschaftlichen Schwerpunkt.
Eine fiktive Schülerin, die Neuland betritt
In der 11. Klasse lernen Schüler, dass der Zwischenraum zwischen dem Plus- und Minuspol durch ein elektrisches Feld beschrieben werden kann. Es ist an den Polen verankert; diese Verankerungen werden Ladungen genannt. Gelingt an einer Waldorfschule der phänomenologische Unterrichtsansatz, so lernen Schüler nicht, dass die Ladungen allein die Ursache des Feldes sind, das Feld gewissermaßen hervorbringen. Das wäre ein reduktionistischer Ansatz. Vielmehr durchdenken sie, wie elektrische Felder und Ladungen zwei Aspekte sind, mit denen man einen elektrischen Zustand beschreiben kann. Sie lernen einen Erscheinungszusammenhang kennen. Dadurch ist ihr Wissen breiter vernetzt, sie können den reduktionistischen Standpunkt aus ihrem Überblick über einen Kontext als einen Aspekt unter anderen erkennen.
Wenn unsere fiktive Schülerin im Physikunterricht der 11. Klasse nun lernt, dass die Ladung nur portionsweise auftritt (»sie ist quantisiert«) und nur das ganzzahlige Vielfache einer elementaren Portion sein kann (»Elementarladung«), so mag sie davon fasziniert sein, dass der elektrische Zustand nur in Portionen am Stoff verankert ist. – Der Stoff hat Masse. – Treten Masse und Ladung in einem festen Verhältnis miteinander in Verbindung?
Nach weiteren Unterrichtsstunden, die hier nicht referiert werden sollen, wird sie diese Frage für negative Ladungen beantworten können: Ja, es liegt ein bestimmtes Verhältnis vor. Wir können verschiedene Versuche in einer Teilchenvorstellung zusammenführen. Das Teilchen wird Elektron genannt. Es ist eine logische Konstruktionsleistung, ein Erzeugnis unseres Verstandes (Giancoli 2010).
Unsere fiktive Schülerin hat das Elektron aus ihrem Überblick über einen Kontext kennengelernt. Sie meint nicht, dass elektrische Erscheinungen nichts anderes als die Folge von unterschiedlich vielen Elektronen auf den beiden Polen sind. Sie versteht, dass eine solche Formulierung im Einzelfall zweckmäßig sein kann. Sie meint aber nicht, dass allein die Elektronen die elektrischen Erscheinungen hervorbringen oder »machen«. Ihr Blick auf die elektrischen Erscheinungen ist nicht reduktionistisch.
Sie wird im naturwissenschaftlichen Wahlpflichtangebot schließlich einen kontext-orientierten Zugang kennenlernen, der das Atom nicht rein reduktionistisch auffasst, d.h. nicht wie einen Lego-Baustein denkt, aus dem die Materie aufgebaut ist. Vielmehr kann sie beurteilen, inwiefern es sinnvoll ist, eine Fülle von Experimenten so zusammenzufassen, dass das Atom als logische Konstruktionsleitung fassbar wird, bei der die Erhaltungsgrößen (Masse, Ladung, Energie) in einem räumlichen Vorstellungskomplex zusammengeführt werden. Auch hier wird sie die reduktionistische Vorstellung aus ihrem Überblick über einen Kontext als speziellen Aspekt erfahren können.
Die fiktive Schülerin wird an der Waldorfschule in der oberen Oberstufe durch ihren naturwissenschaftlichen Wahlpflichtunterricht mehr als den reinen Prüfungsstoff lernen. Sie kann nicht in jedem Fach, aber in ihren naturwissenschaftlichen Vertiefungsfächern, reduktionistische Zugänge in Kontexte einbetten. Dadurch ist es ihr möglich, eine rein mechanische Auffassung der Natur zu überwinden, die entstünde, wenn sie Atome wie Lego-Bausteine dächte. Sie kann mit ihrer Prüfungsvorbereitung zum Abitur zugleich Kontexte mitdenken, wenn sie Elektronenbahnen ausrechnet.
Die Waldorfschule, die sie besucht, bemüht sich um Bildungsprozesse, die dialogisch angelegt sind. Die Schülerin lernt Erkenntnisfiguren kennen, die abstrakt und anspruchsvoll sind, gleichwohl aber an die Erscheinungen angeschlossen bleiben.
Individuelle Bedürfnisse und gesellschaftlicher Bedarf
Im Umkreis der Waldorfpädagogik wird vielerorts unterstrichen, dass die obere Oberstufe mehr als reine Prüfungsvorbereitung sein müsse. Die individuellen Bedürfnisse der Jugendlichen seien größer als ein Prüfungsfokus, der darauf ziele, in kurzer Zeit zahlreiche reduktionistische Positionen zu trainieren.
Will man diese Herausforderung angehen, so hat das Konsequenzen für die Schulstruktur, die ich an anderer Stelle diskutiert habe (Sommer 2021). In dieser Darstellung will ich lediglich einen inhaltlichen Aspekt hervorheben: Der gesellschaftliche Bedarf, in dialogischer Weise mit der Natur umzugehen und einen Habitus zu entwickeln, der sich an ihren Ressourcen orientiert, braucht eine Grundlage in der schulischen Bildung. Im naturwissenschaftlichen Unterricht können das kontext-basierte Zugänge sein, welche die Reduktion nicht als »ein Eigentliches«, sondern vielmehr als fokussierte, mechanische Blicklenkung erfahrbar machen.
Das braucht Zeit. Sollen hier individuelle Bedürfnisse der Jugendlichen und gesellschaftlicher Bedarf zusammenkommen, so kann man diese Zeit nicht noch auf das etablierte Stundenpensum aufsatteln.
Die Lösung liegt meiner Auffassung nach darin, dass man in einer Richtung seiner Wahl diesen Aspekt exemplarisch kennenlernt.
Warum? – Weil nur so eine spezifische Stärke der Waldorfpädagogik konkretisiert werden kann und Schüler erleben können, wie sich der Lehrplan der Waldorfschulen nicht nur an einem tradierten humanistischen Bildungsideal, sondern auch an Forderungen, die in der Zeit liegen, orientiert.
Zum Autor: Wilfried Sommer ist an der Schnittstelle von Schule und Hochschule tätig: einerseits als Professor für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt phänomenologische Unterrichtsmethoden an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Alfter, andererseits in der Lehrerbildung am Lehrerseminar und als Physiklehrer an der Freien Waldorfschule in Kassel. Außerdem ist er Vorstandsmitglied im Trägerverein der Kasseler Jugendsymposien.
Literatur: D. Giancoli: Physik. Lehr- und Übungsbuch. München 2010 | W. Sommer: Resonanzfiguren als Erkenntnisfiguren. Ein Essay zu 100 Jahren Oberstufenunterricht an Waldorfschulen. Stuttgart 2021 | H. Wiesner, H. Schecker, M. Hopf: Physikdidaktik kompakt. Hallbergmoos 2011