No Blame Approach

Muriel Singer

Die Aussage, dass Konflikte da zu Hause sind, wo Menschen aufeinandertreffen, trifft natürlich auch für Waldorfschulen zu, wo Kinder und Jugendliche bekanntermaßen in besonders großen Klassengemeinschaften zusammengefasst sind.

Schulsozialarbeit ist eine neue Errungenschaft an den Waldorfschulen. Bis vor kurzem gab es kaum oder gar keinen Raum für Schüler:innen, um soziale Probleme im Kontext Schule bewältigen zu können.

Erst seit rund zehn Jahren wird Waldorfschulsozialarbeit (siehe Beitrag von Fridtjof Meyer-Radkau) immer mehr in den Schulalltag integriert. Der besondere Ansatz für die Sozialarbeit an Waldorfschulen ergibt sich aus der Menschenkunde Rudolf Steiners, die sehr gut mit den Grundhaltungen und Methoden der Sozialen Arbeit, wie Lebensweltorientierung und dem ressourcenorientierten Blick auf den Menschen und seine Themen sowie den verschiedenen systemischen Methoden vereinbar ist.

Ob sich eine Klasse zu einer tragfähigen Gemeinschaft entwickelt, in der sich alle Beteiligten angenommen und gesehen fühlen, hängt von vielen Faktoren ab. Eine Gemeinschaft zu werden und zu bleiben, erfordert ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Zeit von Lehrer:innen sowie allen Beteiligten in der Schule.

Der Alltag in einer Schule ist von permanenter Taktung geprägt, alle sind ständig in Bewegung. Konflikte in der Klasse, unangenehme Klassendynamiken oder gar Mobbing bedeuten für die Lehrkräfte eine zusätzliche Belastung. Genau an diesem Punkt setzt Schulsozialarbeit an. Ihre Aufgabe ist es, den Schulorganismus zu entlasten, indem sie den Lehrkräften bei Problemen anbietet, Lösungsmöglichkeiten für ihre Klasse zu finden. Die Schulsozialarbeiter:innen bieten auch Klasseninterventionen und Projekte an, um mit der Klasse an einer Verbesserung der Klassengemeinschaft zu arbeiten. Sie schaffen einen Schutzraum für die Schülerschaft. Hierbei spielt die Schweigepflicht eine wichtige Rolle. All das, was gesprochen wird, wird vertraulich behandelt und so haben die Heranwachsenden die Möglichkeit, mit dem Schulsozial­arbeiter:innen in ihrem eigenen Tempo an ihren Themen zu arbeiten. Die Anliegen können sehr unterschiedlich sein. Die Bandbreite der Beratungsthemen kann von Konflikten im Klassenverband, Stress, Zukunftsberatung gegen Ende der Schulzeit, Essstörungen oder anderen Sucht- bzw. Abhängigkeitserkrankungen, psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Streitigkeiten im Familienkontext, Trennung und Scheidung der Eltern bis zu Begleitung bei Todesfällen und vielem mehr reichen. Aber auch Eltern und Erziehungsberechtigte suchen oft das Beratungsangebot der Schulsozialarbeit auf, beispielsweise bei Erziehungsproblemen oder weil sie sich einfach Sorgen um ihre Kinder machen. In der Regel wird die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Schulsozialarbeit von vielen Lehrkräften im Alltag sehr geschätzt.

Integrieren statt bestrafen

Ein verbreitetes Phänomen in sozialen Gruppen ist Mobbing. Es kommt an allen Schultypen vor. Mobbing bedeutet, dass eine Person über einen längeren Zeitraum ausgegrenzt, geärgert, bedroht, ignoriert oder gar körperlich angegriffen wird. Dies findet heute in der Schule vor Ort, aber auch zunehmend im virtuellen Raum statt. Dieses Phänomen nennt man Cybermobbing. Der große Unterschied zu Mobbing im echten Leben ist, dass das Netz enthemmt und Dinge geschrieben und gepostet werden, die normalerweise nicht gesagt werden würden. Außerdem kommt noch die Anonymität dazu und dass das Mobbing 24 Stunden am Tag andauern kann.

Ein Fall aus meiner Tätigkeit als Schulsozialarbeiterin verdeutlicht, worum es beim Umgang mit Mobbing geht. Zu Beginn meiner Tätigkeit an der Waldorfschule suchte mich eine Gruppe Mädchen aus der Unterstufe auf und berichtete, dass eine Schülerin aus der Klasse oft geärgert, beleidigt oder ausgegrenzt wurde. Die Mädchen wollten ihrer Mitschülerin helfen, wussten jedoch nicht wie. Sie berichteten, dass die Mitschülerin bereits seit ihrer gemeinsamen Kindergartenzeit geärgert wurde. Zunächst stand das Sammeln von Hilfemöglichkeiten im Zentrum der Beratung. Was kann für die Schülerin speziell getan werden. Ich brachte den »No Blame Approach« zur Sprache. Dieser »Ansatz ohne Schuldzuweisung« ist eine lösungsorientierte Vorgehensweise bei Mobbing, die in den 1990er Jahren von Barbara Maines und George Robinson in England entwickelt wurde und seither auch im deutschsprachigen Raum stetig an Bedeutung gewinnt.

Häufig werden beim Auftreten von Mobbing diejenigen bestraft oder zurechtgewiesen, die das Mobbing maßgeblich betreiben. Das führt meistens dazu, dass danach das Mobbing zunimmt und die Betroffenen bedroht werden, wenn sie weitere Hilfe holen. So kann es vorkommen, dass sich die Mobbingstrukturen verfestigen, dass das betroffene Kind sich keine Hilfe mehr holt und dem Treiben der Gruppe noch stärker ausgeliefert ist. Wenn zudem noch Lehrkräfte aus Unwissenheit über das Mobbing das unter innerem Druck stehende und gemobbte Kind tadeln, z.B. weil es nicht bei der Sache ist, leisten sie dieser Situation Vorschub. In dem beschriebenen Fall kamen viele der genannten Punkte zusammen.

All das war im Fall von Karmen (Name geändert) in der Vergangenheit geschehen. Das erklärte ich den Mädchen, die sich an mich gewandt hatten. Wir besprachen das weitere Vorgehen und ich kündigte an, Karmen einzuladen und ihr das Vorgehen zu erklären. Anschließend würden wir dann eine Unterstützergruppe bilden, die aus drei Gruppen in der Klasse bestehen sollte: den Kindern, die das Mobbing stark betrieben – den Verursachern –, denjenigen, die einfach mitmachten und lachten – den Mittläufern – und schließlich der Gruppe der Zuschauer. Die Mädchen wollten bei der Unterstützergruppe gleich mitmachen und wir vereinbarten, dass ich Karmen beim ersten Gespräch davon berichten würde.

Karmen war etwas überrascht, als ich sie auf dem Pausenhof ansprach und sie zu einem Gespräch einlud. Als sie hörte, dass eine Gruppe Mädchen bei mir in der Beratung gewesen war, schien sie erleichtert. Ich erklärte ihr, dass es bei dem Gespräch nicht um Bestrafung gehen würde, sondern einzig darum, wie die Situation sich ab jetzt verbessern ließe. Wir überlegten, wer in die Gruppe aufgenommen werden sollte. Sie nannte von sich aus gleich die drei Mädchen, die zu mir gekommen waren und nie wirklich an dem Mobbing beteiligt gewesen waren. Sie erzählte mir, dass zwei Jungs besonders gemein zu ihr seien und dass ein paar Mädchen sie ausgrenzten. Einige drehten sich weg, wenn sie versuche, sich neben sie zu stellen, schauten sie so an, als sei sie eklig, oder lachten, wenn sie wieder geärgert werde. Sie weinte und sagte: Sie habe Angst, dass es noch schlimmer werden könnte. Ich versicherte ihr, das ich damit schon gute Erfahrungen gemacht hätte. Sie war erleichtert, dass sie bei dem Gespräch mit der Unterstützergruppe nicht dabei sein musste. Wir machten gleich einen Termin für die kommende Woche aus, um zu sehen, ob sich etwas verbessert hat. Damit war sie einverstanden.

Ich lud die Kinder – ohne Karmen – mit der Begründung ein, dass ich dringend ihre Hilfe bräuchte. Als ich ihnen in meinem Beratungsraum bei einer Tasse Tee erklärte, worum es ging, versuchten sich diejenigen, die Karmen besonders zugesetzt hatten, sofort zu rechtfertigen. Ich stellte klar, dass es vor allem darum gehe, ab jetzt die Situation zu verändern und dafür zu sorgen, dass es Karmen wieder besser geht. Ich hob von jedem Kind die Stärken hervor und jedes überlegte sich ganz konkret, was es für Karmen tun könnte: Der eine Junge nahm sich vor, sie morgens einfach ganz normal, wie alle andern auch, zu begrüßen. Ein Mädchen nahm sich vor, sich im Hort neben sie zu setzen.

Nach einer Woche lud ich Karmen ein. Sie war so froh: Die Stimmung in der Klasse hatte sich gedreht und sie ging wieder gerne in die Schule. Auch die Unterstützergruppe war erleichtert, dass die Mobbingsituation in der Klasse ein Ende hatte. Dadurch dass die Kinder mit in den Lösungsprozess eingebunden waren, hatten sie die Möglichkeit, ohne Gesichtsverlust ihr Verhalten zu ändern.

Alles im Auge behalten

Um die neue Situation zu festigen, sind weitere Maßnahmen notwendig. So ist es zum Beispiel wichtig, dass Nachbesprechungen mit der Unterstützergruppe geführt werden. Es ist hilfreich, zu vereinbaren, dass zwei sich verantwortlich fühlen und sich melden, falls die Situation wieder schlechter werden sollte. Das gibt den Kindern die Sicherheit, dass die Situation im Auge behalten wird.

Gerade wenn Mobbingstrukturen lange bestanden haben, ist es wichtig, sie mit dem betroffenen Kind aufzuarbeiten. Manchmal verwechseln Kinder die plötzliche Nettigkeit damit, dass sie meinen, es seien Freundschaftsangebote. Besonders, wenn sie keine Freunde in der Klasse haben, ist es wichtig, sie zu stärken und mit ihnen Strategien zu entwickeln, wie sie Freundschaften schließen können. Dieser Prozess kann erst beginnen, wenn das akute Mobbing beendet ist.

Karmen habe ich lange begleitet, sie hat viel Geduld gebraucht, bis sie eine gute Freundin in der Klasse gefunden hat, aber das akute Mobbing konnten wir schnell in den Griff bekommen. Auch die Klassenlehrerin konnte in ihrem Unterricht aufmerksam auf die Situation bleiben.

Der »No Blame Approach« ist wissenschaftlich evaluiert und kann auch von Lehrkräften in Fortbildungen erlernt werden. Es empfiehlt sich, diese Methode im Schulkontext bekannt zu machen, so dass sie Teil der Schulkultur werden kann. Auch Klassenprojekte zur Mobbingprävention im echten Leben und im Netz helfen, Mobbingstrukturen früher zu erkennen und zu beenden.

Es ist hilfreich, wenn die Schulsozialarbeiter:innen und Lehrer:innen solchen Problemen mit einer gemeinsamen Haltung entgegentreten.

Zur Autorin: Muriel Singer ist ehemalige Waldorfschülerin und arbeitet als Sozialarbeiterin an der Waldorfschule Schwabing mit dem Träger Condrobs e.V. und der Einrichtung Inside@School zusammen.

www.no-blame-approach.de/

Literatur: H. Blum, D. Beck: No Blame Approach: Mobbing-Intervention in der Schule. Praxishandbuch, Köln 2014