Die meditative Versenkung in den Atmungsvorgang leitete die Menschen einst auf ihrem Weg nach innen. Sie suchten auf diesem Wege die mystische Vereinigung mit dem Göttlichen. In jenen Zeiten erlebten sie die Natur noch nicht wach und distanziert, sondern sich wie in einem Meer träumend mit ihr verbunden.
Mit dem Erwachen des eigenständigen Denkens aber begann der Mensch die Gedanken mehr und mehr als ihm eigen zu empfinden. Es wurde jetzt erlebt: »Ich denke«, während es vorher geheißen hatte: »Es denkt in mir«. Dieser Übergang erfolgte jedoch nicht abrupt, sondern vollzog sich über viele Jahrhunderte hinweg. Mit Beginn der Neuzeit, ab dem 15./16. Jahrhundert, eröffnete sich so die Möglichkeit, sich der Natur mit Hilfe der neuen, selbst gedachten Gedanken von außen zu nähern. Dadurch entfernten die Menschen sich von ihrem innerlichen Erleben der Natur immer mehr. Zugleich entwickelte sich wie in einer Gegenbewegung die Möglichkeit, das, was man zuvor nur in sich selbst, auf mystischem Wege, durch den physischen Atem geleitet, gesucht hatte, nun in der Natur wieder zu finden.
Goethe und die Andacht der Natur gegenüber
Goethe war im 18. Jahrhundert der erste, der die Naturwissenschaft auf diese Weise vertiefte. Er näherte sich den Phänomenen, indem er die eigenen Gedanken, die sich ständig in die Wahrnehmungen hineinmischen, zurückhielt: »Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.« Daran knüpfte Rudolf Steiner an, indem er diese Methode weiter entwickelte. Die zuvor nach innen gerichtete Haltung der mystischen Andacht wurde in der Wahrnehmung nach außen gewendet. Das eigenständige Denken wird zu einer Art empfangender Schale, denn jetzt beginnen die Phänomene sich selbst auszusprechen. Das Denken entwickelt in der Vertiefung der Wahrnehmung einerseits die Haltung der Andacht, die man auch als eine Haltung des Staunens bezeichnen könnte. Andererseits entwickelt sich dem Gedankenleben gegenüber eine neue Form der Achtsamkeit. Denn jetzt kommt es darauf an, die altgewohnten Denkgewohnheiten, die sich ständig in die Wahrnehmungen hineinmischen wollen, zurückzuhalten und abzuwarten, wie sich die Phänomene selbst aussprechen.
Licht-Seelenatem
Es entsteht eine neue Form des Atmens, die Steiner auch als neue Form des Yoga oder als »Licht-Seelenatem« bezeichnet hat. Eine erste Übung in dieser Richtung beschreibt Steiner wie folgt: »Der Anfang muss damit gemacht werden, die Aufmerksamkeit der Seele auf gewisse Vorgänge in der uns umgebenden Welt zu lenken. Solche Vorgänge sind das sprießende, wachsende und gedeihende Leben einerseits, und alle Erscheinungen, die mit Verblühen, Verwelken, Absterben zusammenhängen, andererseits. Überall, wohin der Mensch die Augen wendet, sind solche Vorgänge gleichzeitig vorhanden. Und überall rufen sie naturgemäß auch in dem Menschen Gefühle und Gedanken hervor. Aber nicht genug gibt sich, unter gewöhnlichen Verhältnissen, der Mensch diesen Gefühlen und Gedanken hin. Dazu eilt er viel zu rasch von einem Eindruck zum anderen. Es handelt sich darum, dass er intensiv die Aufmerksamkeit ganz bewusst auf diese Tatsachen lenke. Er muss, wo er Blühen und Gedeihen einer ganz bestimmten Art wahrnimmt, alles andere aus seiner Seele verbannen und sich kurze Zeit ganz allein diesem einen Eindrucke überlassen. Er wird sich bald überzeugen, dass ein Gefühl, dass in einem solchen Falle durch seine Seele früher nur durchgehuscht ist, anschwillt, dass es eine kräftige und energische Form annimmt. Diese Gefühlsform muss er dann ruhig in sich nachklingen lassen. Er muss dabei ganz still in seinem Innern werden. Er muss sich abschließen von der übrigen Außenwelt und ganz allein dem folgen, was seine Seele zu der Tatsache des Blühens und Gedeihens sagt.«
Gedankenkontrolle
Diese Art von Wahrnehmungsübung wird aber nur dann wirklich fruchtbar sein, wenn dazu eine andere Art von Übung hinzutritt. Dazu muss man sich zunächst bewusst machen, dass die eigenen Gedanken in der Gedankenwelt eine reale Wirkung haben wie die physischen Kräfte in der physischen Welt. Ein schlechter, ein hässlicher Gedanke bewirkt ebenso etwas Schlechtes und Hässliches wie eine Gewehrkugel in der physischen Welt. Daher solle man sich, so Steiner, verbieten, hässliche und schädliche Gedanken zu denken, und an deren Stelle gute und bedeutsame Gedanken setzen. Eine wahrlich nicht einfache Übung, denn viele negative Gedanken strömen täglich durch unser Bewusstsein. Die Kontrolle der Gedanken ist eine der wichtigsten Grundübungen im Hinblick auf die Entwicklung von Andacht und Achtsamkeit. Denn so wie die Andacht in der Intensivierung unserer Wahrnehmungen der Natur, der Klänge und des Menschen geübt werden kann, so die Achtsamkeit gegenüber der Welt unserer Gedanken und Gefühle. Das bedeutet, dass ich zum Beispiel all die inneren Kommentare, die ich anderen Menschen gegenüber innerlich ständig von mir gebe, vermeide.
Ob negativ oder positiv, die Welt der Wahrnehmungen braucht diesen »Senf«, den wir ständig dazu abgeben, nicht. Lassen wir diesen also einfach mal weg.
Vor-Übungen mit Klangschalen
Eine große Hilfe kann dafür auch die Übung der vertieften Wahrnehmung der Welt der Töne und Klänge sein. Man nehme sich dazu beispielsweise eine der heute überall erhältlichen Klangschalen. Man suche sich dazu eine aus, deren Klang einen in besonderer Weise anspricht und vertiefe sich immer wieder in ihn. Man achte dabei besonders auf den Verlauf des Klanges, variiere dabei zum Beispiel auch die Art des Anschlages oder die Schlegel. Die Andacht, die sich hierbei den Tönen gegenüber entwickelt, ist deshalb ein guter Einstieg, weil wir diesen Klängen gewöhnlich gar keine Gedanken, keine Theorien oder dergleichen entgegenbringen können. Wir stehen ihnen begriffsfrei gegenüber. Durch diese Übung können wir üben, rein wahrzunehmen.
Diese Wahrnehmungen lassen sich nun auch gefühlsmäßig vertiefen, indem man sich zum Beispiel fragt:
• In welcher Region meines Körpers spricht mich der Ton an?
• Welche Geste erlebe ich an dem Ton?
• Welche Bewegung oder Dynamik erlebe ich dabei?
• Kann ich dem Ton eine Farbe zuordnen?
• Kann ich den Ton auch in ein Bild fassen?
Durch solchermaßen vertiefte Wahrnehmungen können im Anschluss die Übungen an der Pflanzenwelt, wie die oben geschilderten, leichter angegangen werden. Aber auch die Achtsamkeit den eigenen Gedanken und den inneren Kommentaren gegenüber kann wachsamer geübt werden.
Ein atmendes Verhältnis zur Welt – auch in der Pädagogik
In diese neue Form der Andacht und Achtsamkeit, die vom seelischen Atem des Wahrnehmens und Denkens ausgeht, wird nun in der Waldorfpädagogik das moderne, naturwissenschaftlich gebildete aber auch verbildete Bewusstsein einbezogen und langsam verwandelt. Und darauf legte Steiner besonderen Wert bei der Ausbildung der Waldorflehrer. Denn er legte ihnen ans Herz, bei allem Unterrichten darauf zu achten, dass sie ein Gleichgewicht zwischen dem Wahrnehmen und Aufnehmen von Inhalten und der inneren Verarbeitung durch das Denken herstellen. Ein Zuviel an Inhalten verhindert ein gedeihliches Verarbeiten, führt zu einem unrhythmischen Verhältnis zwischen Wahrnehmen und Denken.
Ein theorielastiges Unterrichten ohne richtige Phänomene, die man wahrnehmen kann, führt ebenfalls zu einem unrhythmischen Verhältnis der beiden Säulen des Bewusstseins beim Kind. Richtig gestalteter Unterricht zeichnet sich durch einen gesunden Rhythmus zwischen Denken und Wahrnehmen aus, wie er sich am leichtesten bei allem künstlerischen Tun einstellt, weshalb in der Waldorfpädagogik gerade auf alles Künstlerische ein so großer Wert gelegt wird.
Vorsicht im Umgang mit neuen Medien
Bei dem hier entwickelten Verständnis von Andacht und Achtsamkeit als meditativer Methode, auch für die Pädagogik, lässt sich leicht einsehen, welche Folgen ein übermäßiger Gebrauch neuer Medien, von Smartphones und des Internet hat. Die ständige Ablenkung von der realen Gegenwart des Wahrnehmbaren durch den permanenten Zugriff auf das Internet macht ein atmendes Verhältnis zur Welt unmöglich. Sie muss zu einem Verlust an Andacht, zu einem Verlust an Achtsamkeit führen und wird dementsprechend gerade die Kräfte, die wir als heutige Menschen entwickeln könnten, schwächen. Indem wir diese Medien unkontrolliert und unbewusst nutzen, werden wir ihren Gefahren nicht begegnen können. Diese bestehen darin, dass ein durch übermäßigen Gebrauch dieser Medien verbildetes Bewusstsein in Rastlosigkeit und Unglück versinkt (Spitzer), und der Natur, vor allem aber anderen Menschen gegenüber gleichgültig und achtlos wird. Daher kommt es gerade der Medienwelt gegenüber darauf an, die zuvor beschriebene Achtsamkeit zu entwickeln.
Das heißt, den Umgang mit ihr im Hinblick auf das tatsächlich Erforderliche und Notwendige einzuschränken und alles Überflüssige, Gewohnheitsmäßige wegzulassen.
Zum Autor: Andreas Neider ist Buchautor und Dozent für Spiritualität, Meditation und Anthroposophie. Seit 2002 Leiter der Kulturagentur »Von Mensch zu Mensch«. Mitbegründer der AKANTHOS- Akademie für anthroposophische Forschung und Entwicklung. www.andreasneider.de
Literatur:
R. Steiner: Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie – Das Michael-Mysterium, GA 26, Dornach 1976, darin besonders der erste Brief mit dem Titel »Im Anbruch des Michael-Zeitalters«
J. W. v. Goethe: Sprüche in Prosa; Naturwissenschaftliche Schriften, hrsg. von R. Steiner, 4. Bd., 2. Abt.; R. Steiner: Andacht und Achtsamkeit – Stufen des Wahrnehmens, hrsg. von A. Neider, Basel 2014
A. Neider: Aufmerksamkeitsdefizite. Wie das Internet unser Bewusstsein korrumpiert und was wir dagegen tun können, Stuttgart 2013
M. Spitzer: Über die Folgen des übermäßigen Smartphone-Gebrauchs in: Zeitschrift Nervenheilkunde 1-2, 2014