«Ich habe 12 Jahre alt? – Wieso denn das? Es heißt doch: Ich bin 12 Jahre alt!»
Dieses elementare Beispiel aus dem Vergleich der deutschen und französischen Sprache zeigt, wie verschiedene Kulturen ihre Sicht auf das Leben auch verbal in unterschiedliche Ausdrucksformen kleiden, und wie sich dahinter Unterschiede verbergen, die die Facetten des Menschseins beleuchten. Die Waldorflehrerin Jessica Gube berichtet aus dem Fremdsprachenunterricht der Mittelstufe.
In Frankreich «hat man Jahre» (j’ai 12 ans, um das obige Beispiel noch einmal im Original zu nennen). Man hat Jahre erreicht, gelebt, erlebt, auf dem Buckel, vielleicht auch erlitten. Ob man soundso viele Jahre alt ist, scheint weniger relevant. Warum sagt man im Deutschen eigentlich X Jahre alt und nicht X Jahre jung? Das wäre bei unter 18-jährigen doch durchaus angebracht. Oder betrachtet die deutsche Kultur sehr weise die Tatsache, dass man bereits ab der Geburt altert?
Was Kinder in den ersten Schuljahren an sprachlichen Wendungen spielerisch erwerben, wird in der Mittelstufe Stück für Stück bewusst gemacht und liefert viele Anlässe, sich zu wundern oder hier und da auch zu stöhnen, wenn es gar zu ungewohnt und dadurch unbequem ist. Neben dem systematisch größer werdenden Wortschatz und der Automatisierung typischer Ausdrücke durch variierend-wiederholendes Üben ist der Umgang mit Sprachstrukturen ein roter Faden in der Mittelstufe.
Strukturen werden über das anwendende Tun zum Verstehen und Erkennen der darin verborgenen Gesetzmäßigkeiten gebracht. Eine Regel verstehe ich besser, wenn ich sie selbst entdeckt, formuliert und ihren Sinn verstanden habe. Das Phänomen, die Erscheinung, wird von den Schüler:innen beschrieben, charakterisiert und so Schritt für Schritt bis zum Erschließen der inneren Strukturen fortgeschritten.
Phänomenologisches Arbeiten ist in vielen Fächern ein Merkmal des waldorfpädagogischen Ansatzes, ob in der Geografie, den Naturwissenschaften, der Geschichte oder auch der Kunst. Die Annäherung an die inneren Gesetze bleibt dabei vorläufig, so wie auch jeglicher Stand der Wissenschaft, ja unseres gesamten Weltbildes immer nur eine aktuelle Standortbestimmung ist, die sich mit der in Veränderung begriffenen Welt auch weiterentwickeln muss.
Zu den Phänomenen vieler Sprachen gehören die unregelmäßigen Verben. Sie sorgen bei Schüler:innen gern für Seufzer, gilt es hier doch vieles auswendig zu lernen und dann geläufig zu halten, wie Tonleitern auf dem Musikinstrument oder das Einmaleins, das man einfach können muss, um es sicher anwenden zu können.
Tätigkeitswörter sind eine faszinierende Welt, da sie in ihrer Vielfalt und Beweglichkeit in den Modi und Zeiten die ungeheure Lebendigkeit einer Sprache repräsentieren. Wie die Sprache ist auch das Leben vielgestaltig und nicht bequem – und wie schön, dass es so ist! Eigentlich können wir uns darüber freuen, wie fein die Lebensvielfalt auch sprachlich ausgedrückt werden kann.
Hier sei nun ein besonderer Blick auf die sogenannten Hilfsverben geworfen.
Da tauchen als erstes haben und sein auf, im Französischen übrigens immer in umgekehrter Reihenfolge genannt, être et avoir – auch da spricht sich eigentlich schon etwas aus …
Sein und haben sind immer dann als Hilfsverben zu bezeichnen, wenn sie dabei behilflich sind, andere Verben in einer bestimmten Zeit auszudrücken, beispielsweise in der Vergangenheit (ich bin gegangen – je suis allé – oder: ich habe gegessen – j’ai mangé). Im Deutschen gibt es daneben auch werden als Hilfverb, nämlich um Zukunftsformen auszudrücken (ich werde singen – je chanterai, im Französischen sinngemäß: ich werde zu singen haben, ich habe es noch vor mir, ich habe es zu tun). Auch hier ein Anlass, im Unterricht genauer hinzuschauen. Im Deutschen wird etwas in Zukunft erst noch, es entsteht. Im Französischen hat man es vor sich, aber ob es eintritt, ist nicht ganz gewiss. Wenn man schon genauer weiß, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit eintreten wird, benutzt man eine andere Form: Ich gehe etwas tun – je vais faire quelque chose. Da ist man schon fast auf dem Weg, es liegt sehr nahe – selbst, wenn es noch geraume Zeit entfernt ist.
Die nicht ganz so große Wahrscheinlichkeit der echten Zukunftsform je chanterai, in der ich etwas zu tun habe, ist dann interessanterweise im Französischen formal gar nicht mehr weit entfernt von der Möglichkeitsform, dem Konditional, ich würde singen – je chanterais – aber das ist dann bereits der nächste Schritt auf dem Weg …
Im Deutschen wird die Zukunftsform seit einer Reihe von Jahren immer weniger benutzt, sondern lieber im Präsens mit einer genaueren Bestimmung ausgedrückt: «Ich fahre nächste Woche nach Hamburg.» – «Ich werde nächste Woche nach Hamburg fahren» meinen wir inzwischen eher modal, nämlich um zu betonen, dass wir es auch wirklich machen wollen und demzufolge also machen werden. Zukunft als Betonung des eigenen Willens, ansonsten lieber Gegenwartsformen – auch ein Phänomen, das man genauer betrachten könnte.
Den Verben sein und haben begegnen Kinder der vierten und fünften Klasse zunächst aber nicht als Hilfsverben, sondern als Vollverben. Der eigentliche Satzgegenstand wird durch diese Verben ausgedrückt.
In kleinen Sätzen lernen die Schüler:innen überschaubare Zusammenhänge kennen, üben die Verbenreihen auch auswendig und bilden damit viele eigene Sätze. Das kann schon bei ersten Satzfolgen zu interessanten kleinen Paketen von aufeinander bezogenen Aussagen führen:
– Ich bin in der Schule. Ich bin nicht zu Hause. – Ich bin in Deutschland. Ich bin nicht in Frankreich. – Ich bin an meinem Platz. Ich bin nicht auf dem Hof. – Ich habe einen Hund. Ich habe keine Katze. – Ich habe eine Schwester. Ich habe keinen Bruder. –
In Kombination mit dem nächsten erlernten Verb faire (machen, tun) ergeben sich schon Mini-Geschichten: – Ich bin ein Junge. Ich habe ein Fahrrad. Ich mache eine Reise. – Ich bin ein Mädchen. Ich habe einen Hund. Ich mache einen Spaziergang. – Ich bin in Deutschland. Ich habe eine Familie. Ich mache/backe einen Kuchen. – Ich bin in Frankreich. Ich habe einen Freund. Ich mache eine Tour durch Paris usw.
Haben und sein – oder sein und haben – erlauben auch schon in einfacher
Satzanwendung vielerlei Standortbestimmungen. Durch die Mittelstufenjahre hindurch wird eine Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten angelegt, mit der der eigene Standort immer wieder neu ausgedrückt werden kann, passend zum wachsenden Wortschatz der jeweiligen Klassenstufe.
Mögliche Fragen zum Sein: Wer bin ich? (Name, Geschlecht, Familienstand) Wie bin ich? (Alter, körperliche, seelische und geistige Eigenschaften, Charakter) Wo bin ich? (Raumorientierung) Wann bin ich? (… geboren oder an einem bestimmten Ort, Zeitorientierung) Was bin ich? (Beruf oder auch genauere Beschreibung des Wie).
Mögliche Fragen zum Haben: Was habe ich? Das richtet zunächst den Blick auf typische materielle Güter der Kinder (Fahrrad, Hund etc.), enthält aber auch eine mehr innere Dimension (ich habe Hunger, Durst, Gefühle, Gedanken, Ideale, Fähigkeiten und Fertigkeiten).
Das Sein wirft augenscheinlich die größeren Fragen auf, ist es doch eines der größten Rätsel überhaupt: Wer, woher, wohin, wann, wo, wie, warum bin ich – physisch, räumlich, zeitlich, seelisch, geistig. Doch auch das Haben beschäftigt uns lebenslang immer wieder: Eltern, Geschwister, Familie, Freunde, ein Zuhause, eine materielle Grundversorgung, Bildung und Ausbildung, Beruf, Geld, aber auch Fähigkeiten oder Ideale. Das Haben unseres Lebens geht über physischen Besitz und Statussymbole weit hinaus und sollte bestenfalls nicht nur im Materiellen, sondern auch im Seelisch-Geistigen fußen und wachsen. Dann wird es nachhaltig, denn Fähigkeiten und Ideale formen den Charakter und können zum Charisma werden, sich lebenslang weiter entwickeln und uns beflügeln, während materieller Besitz nur zum Teil und in Richtung Lebensende gar nicht mehr relevant ist.
Sein oder Nichtsein? Haben oder Sein? Sein und Werden? Werden und Sein?
Drei Verben, die den Fremdsprachenunterricht vielfältig beleuchten und ins Wesentliche vordringen können, auch wenn das oft gar nicht offensichtlich ist. Wesentlich zu sein, zu werden, das als Ideal zu haben, ist immer wieder aufs Neue eine der schönsten Aufgaben der Pädagogik.
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