Die Unabhängigkeitserklärungen waren die Folge einer Bewusstseinsentwicklung der Menschheit, die die Nationen und Individuen zu immer mehr Selbstständigkeit, größerer Freiheit und mehr Wahlmöglichkeiten führte. Ihr lag eine Emanzipation von der geistigen Welt, von der Natur und vom traditionellen sozialen Zusammenhang zugrunde. Diese Entwicklung war notwendig. Ich glaube aber, dass wir heute diese Entwicklung überdenken müssen, da sie zu weit gegangen ist. Was wir heute benötigen, ist eine Erklärung der gegenseitigen Abhängigkeit. Denn wir müssen uns der Tatsache bewusst werden, dass alle Lebensformen, dass alle Menschen auf der Erde in denkbar umfassendem Sinn voneinander abhängig sind.
Um die Frage zu beantworten, was uns miteinander verbindet, müssen wir zuerst darüber nachdenken, was uns voneinander trennt. Der Emanzipationsprozess von der Natur und von den traditionellen sozialen Bindungen war ein notwendiger Schritt in der Entwicklung dessen, was Rudolf Steiner als »Bewusstseinsseele« bezeichnet. Diese Stufe der Bewusstseinsentwicklung ist charakterisiert durch die Ausbildung eines immer individuelleren Gewissens und durch ein immer profunderes Verständnis der materiellen Welt. Wir stehen heute an einer Schwelle, an der wir weitreichende Entscheidungen treffen müssen, die sich auf die gesamte weitere Entwicklung der Erde und der Menschheit auswirken werden.
Alles, was in der Welt geschieht, betrifft auch uns. Unsere Lebensart, unsere Handlungen, unsere Ziele wirken sich auf die übrige Welt aus. Was hindert uns daran, diese gegenseitige Abhängigkeit anzuerkennen und ihr entsprechend zu handeln? Betrachten wir das Trennende.
Entfremdung zwischen Mensch und Natur
Die erste Trennung ist die Entfremdung zwischen Mensch und Natur. Alle ökologischen Probleme, die uns heute betreffen, sind eine Folge unserer Emanzipation von der Natur. Wir haben vergessen, dass wir ein Teil von ihr sind, dass die Erde ein Lebewesen, ein geistiges Wesen ist, dass die gesamte Natur voller Leben und Bewusstsein ist. Wir verhalten uns so, als wären wir Menschen die einzigen fühlenden Wesen auf diesem Planeten. Das ist nicht wahr. Auch Tiere fühlen und Fleischfabriken sind ein Verbrechen gegen diese fühlenden Wesen. Aber nicht nur Tiere, auch Berge, Flüsse, die Luft leben, sind von Geist erfüllt und wenn wir uns nicht mit dem Geist der Erde, dem Geist aller Lebewesen wieder verbinden, die mit uns auf diesem Planeten leben, dann wird sich die Zerstörung der Umwelt fortsetzen. Die Welt zu zerstören, in der wir leben, ist das Dümmste, was wir tun können, denn wir haben nur diesen einen Planeten. Aber gegenwärtig verbrauchen wir anderthalb Planeten im Jahr: Wir verbrauchen in einem Jahr, was die Erde in 18 Monaten hervorbringt, wir leben, als gäbe es anderthalb Planeten. Hier muss ein Wandel eintreten. Noch ist es nicht zu spät, aber viel Zeit haben wir auch nicht mehr.
Die gegenwärtig heranwachsende Generation steht an einem Kreuzweg, sie muss die Herausforderungen annehmen. Wenn sie dies nicht tut, steht die Zukunft der Menschheit und der Erde in Frage. Das ist zwar eine Verantwortung, aber auch eine Chance. Eine neue Welt muss geschaffen werden und ich bin überzeugt, dass die heutige Jugend die Fähigkeit besitzt, diese Herausforderungen zu meistern. Ökologie ist wichtig, aber Umweltschutz aus egoistischen Gründen reicht nicht. Wir müssen uns wieder mit dem Geist der Erde, den Geistern der Natur verbinden, wir müssen die lebendige Verbindung mit dem Leben im Wasser, in der Luft, in den Bergen und Landschaften wieder herstellen. Nicht nur um unserer selbst willen müssen wir die Natur bewahren, sondern aus der Achtung vor der bewundernswerten Weisheit und Großzügigkeit dieses Planeten, der uns geschenkt worden ist. Achtung und Liebe muss die Grundlage des ökologischen Denkens und Handelns sein.
Entfremdung zwischen Mensch und Mensch
Die zweite Trennung ist die Entfremdung zwischen Mensch und Mensch. Auch sie ist eine Folge der überschießenden Entwicklung der Bewusstseinsseele. Wir haben eine Wirtschaftsordnung geschaffen, die es einer kleinen Minderheit erlaubt, weit über ihre Bedürfnisse hinaus zu leben, während die große Mehrheit der Menschheit nicht einmal die elementaren Lebensbedürfnisse befriedigen kann.
20 Prozent der Weltbevölkerung konsumieren heute 80 Prozent der Weltressourcen. Dieses Ungleichgewicht ist natürlich das Ungleichgewicht zwischen Süden und Norden, zwischen den entwickelten und den unterentwickelten Ländern, aber auch innerhalb reicher Gesellschaften gibt es dieses Ungleichgewicht, gibt es Ungleichheit und Unge- rechtigkeit. Viele Forschungen zeigen, dass eine unmittelbare Beziehung zwischen Ungleichheit und sozialen Problemen besteht. Je ausgeglichener und gesünder eine Gesellschaft ist, um so weniger soziale Probleme hat sie. Die Ungleichheit und Ungerechtigkeit nimmt in einem beängstigenden Maß zu. Der Grund dafür ist, dass wir unsere Beziehung zum Mitmenschen verloren haben. Das gesamte Wirtschaftssystem, das auf Wettbewerb, auf der Maximierung des Profits beruht, ist ein System, das uns anleitet, egoistisch zu sein, gierig zu sein, immer mehr und mehr zu konsumieren. Diese Verhaltensweisen liegen auch der Zerstörung unserer Umwelt zugrunde. Denn die Zerstörung der Umwelt und das Übermaß an Konsum hängen unmittelbar zusammen. Aber das System sagt uns, nur wenn wir mehr konsumieren, mehr zerstören, mehr Abfall produzieren, wächst die Wirtschaft. Wenn wir dies tun, zerstören wir nicht nur den Planeten, wir eignen uns auch mehr an, als uns gerechterweise zusteht. Auf einem endlichen Planeten führt dies unweigerlich dazu, dass unser Überfluss anderswo Mangel erzeugt. Mahatma Gandhi sagte: »Die Erde hat genug, um die Bedürfnisse aller zu befriedigen, sie hat aber nicht genug, um jedermanns Gier zu befriedigen.«
Die Wiederverbindung mit der Natur ist der erste Schritt. Die Wiederverbindung mit unseren Mitmenschen der zweite. Was also verbindet uns? Was uns verbindet, ist der Planet, den wir alle gemeinsam bewohnen, ist das Menschsein, das uns allen gemeinsam ist. Je mehr wir die tiefere Verbindung mit unserer Umwelt, mit der Natur und allen Wesen, die in ihr leben, entwickeln, um so mehr werden wir zu wahren Bürgern dieser Welt, um so mehr können wir uns mit unseren Brüdern und Schwestern auf der ganzen Erde verbinden, um so mehr verwirklichen wir unser Menschsein. Menschen können wir nicht alleine sein – daher die Erklärung der gegenseitigen Abhängigkeit. Wir werden es nur alle zusammen schaffen oder überhaupt nicht.
Entfremdung von uns selbst
Die dritte Trennung ist die Entfremdung von uns selbst. Im Kern ist dies diejenige Entfremdung, die den beiden anderen zugrunde liegt. Die westliche Zivilisation entwickelte sich – von Ausnahmen wie der Anthroposophie abgesehen – auf der Grundlage der Naturwissenschaften, durch die Erkenntnis und Herrschaft über die äußere Welt. Die Ergebnisse sind großartig. Wir müssen aber auch die Kosten dieser Herrschaft anerkennen. Dies umso mehr, als unsere Erziehungssysteme vollständig auf diese Erkenntnis der äußeren Welt fixiert sind und die Erkenntnis unserer Innenwelt vollkommen vergessen wurde. Auf diese Weise entfremden wir uns von uns selbst, von unserem wahren Wesen, unseren höchsten Möglichkeiten.
Die Selbsterkenntnis wurde auf dem Altar der Erkenntnis der äußeren Welt geopfert. Und die Zeit ist gekommen, in unser Inneres zu sehen. Der Ausweg aus den gegenwärtigen Kalamitäten liegt in unserem Inneren. Wir müssen uns dessen bewusst werden, was in unserem Inneren und in unserer Mitwelt vorgeht.
Was heißt Selbstentfremdung? Es heißt, dass wir nicht wirklich wissen, wer wir sind, dass wir uns nicht die Zeit nehmen, in uns hineinzuschauen, dass wir von äußeren Umständen, von den Medien, von Werbung und Marketing umhergetrieben werden. Dieses Getriebensein führt zu Unzufriedenheit. Es gibt einen grundlegenden Mangel, eine grundlegende Unzufriedenheit, die daraus hervorgeht, dass wir den Kontakt mit unserem wahren, unserem höheren Selbst verloren haben. Selbst die Jugend in reichen Ländern, die alles hat, wovon der Rest der Welt nur träumen kann, ist von einem tiefen Unbehagen, von einem Gefühl der Sinnlosigkeit erfüllt. Aber nicht nur die Jugend: Depressionen und stressbedingte Krankheiten gehören in den westlichen Gesellschaften zu den verbreitetsten Todesursachen. Obwohl die Menschen sich nahezu alle Wünsche erfüllen oder wenigstens all ihre notwendigen Bedürfnisse befriedigen können, sind sie nicht wirklich glücklich. Warum? Aus einem einfachen Grund. Weil wir versuchen, ein inneres Bedürfnis durch äußere Mittel zu befriedigen. Alle Menschen sehnen sich nach Glück, alle versuchen Leid zu vermeiden, alle möchten ein gutes, erfülltes Leben führen. Aber solange wir glauben, dass dieses Glück und diese Erfüllung von äußeren materiellen Dingen kommen kann, solange werden wir enttäuscht werden.
Die drei Krankheiten des Geistes und ihre Heilung
Das erste Gift des Geistes ist die Unwissenheit, der Mangel an Selbsterkenntnis. Unwissenheit ist nicht der Mangel an Kenntnissen, sondern die fehlende Beziehung zu unserem wahren Selbst, die fehlende Kenntnis unserer tiefsten Bedürfnisse, der Mangel an Lebenssinn. Unwissenheit führt zu Gier, weil wir diese Unzufriedenheit durch äußere Gegenstände oder zwischenmenschliche Beziehungen zu betäuben versuchen. Wenn ich auf mein inzwischen langes Leben zurückblicke und mich frage, was macht den Unterschied, dann kann ich sagen: Es sind Freundschaft und Liebe. Alles, was ich in diesem Leben aufbauen konnte, gründete auf Freundschaft, auf anderen Menschen und unserer Bereitschaft, zusammenzuarbeiten. Indem wir inhaltsvolle Beziehungen aufbauen, können wir diese Entfremdung zwischen den Menschen abbauen. Wir können auch die Gier überwinden, die aus dem Erlebnis des Mangels hervorgeht und zur Zerstörung der Natur führt. Aus Unwissenheit kann Selbsterkenntnis, Weisheit werden, aus Gier Geistesgegenwart. Wenn ich mit meinem wahren Selbst wirklich in dieser Welt gegenwärtig bin, brauche ich nicht so viele Dinge, um glücklich und erfüllt zu sein, ich brauche kaum etwas von dem, wovon die Werbung mich glauben machen will, dass ich es dringend benötige. Wenn ich wirklich gegenwärtig bin, wandle ich die Gier, das zweite Gift des Geistes, allmählich um. Und wenn die Gier umgewandelt wird, dann kann auch das dritte Gift des Geistes, die Gewalt, der Hass umgewandelt werden. Denn Gewalt gegen andere, gegen die Natur geht aus der Gier, aus dem Wettbewerb hervor, aus dem Gefühl, dass meine Mitmenschen nicht meine Brüder und Schwestern, sondern meine Konkurrenten sind, gegen die ich mich durchsetzen muss, um selbst immer mehr zu haben. Gewalt und Hass können allmählich in Mitgefühl und liebevolle Güte umgewandelt werden.
Zum Autor: Ha Vinh Tho ist Programmdirektor des Zentrums für das Brutto-Glücksprodukt in Bhutan; er studierte 1970-74 an der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach Eurythmie und Heileurythmie. Bei der Jugendtagung »What connects us?«, die im April 2015 am Goetheanum stattfand, hielt der ehemalige Waldorflehrer über Skype einen Vortrag. Die vorliegende Fassung ist von der Redaktion bearbeitet und gekürzt.
Übersetzung: Lorenzo Ravagli