Wenn man sich mit Selbstverwaltung befasst, stößt man schnell auf solche Spannungsbögen. Sie entstehen aus dem Bedürfnis des Menschen, der um sich selbst zu finden, sich zuerst von dem absetzen muss, was er nicht ist. Von der Art und Weise, wie er mit dem sich öffnenden Graben zwischen sich und der Welt umgeht, hängt sein Selbstverständnis ab. Eine grundlegende Spannung ist ihm damit gegeben, in der aber auch die Möglichkeit zu einer neuen, selbsterschaffenen Verbindung liegt. Sich mit anderen Menschen zu verbinden, ist eine lebenslange Aufgabe. Ob er sie ergreift liegt, allein an ihm.
Keine Individualität ohne Gemeinschaft
Vom ersten Atemzug an sind wir Mitglieder einer Gemeinschaft. Es gehört zu den wichtigsten sozialen Entdeckungen, dass man ohne die Zuwendung anderer Menschen nicht lebensfähig ist. Es ist die menschliche Umgebung, die die Voraussetzungen für unsere Selbstfindung schafft. Die Gemeinschaft begleitet ihre neuen Mitglieder auf den ersten Schritten ins Leben. Das geistige Wesen Mensch braucht Formen für seine gesunde Entwicklung, und es ist entscheidend, welches Bild vom Menschen er in seiner Umgebung vorfindet.
Was wir heute an Formen anzubieten haben, muss sich immer wieder an den Impulsen orientieren, die die Neugeborenen mitbringen. Sie sind die Träger der Zukunft. Ihre Impulse brauchen Pflege, damit sie in Erscheinung treten können. Wollen wir diesem Zukünftigen eine Chance geben, sich zu entwickeln?
Wenn wir dazu Ja sagen, dann hat das weitreichende Konsequenzen. Ziel der Erziehung ist dann, dem heranwachsenden Menschen die Hilfe zur Verfügung zu stellen, die er benötigt, um sich selber in der heutigen Welt finden zu können. Der Unterrichtsstoff in der Schule wird zu einem Instrument, um diesen Prozess zu unterstützen. Selbsterziehung wird zur Seele der Methode.
Wenn nun das Geistige der Kinder in der Schule wehen darf, stellt sich die Frage, welche Form das Segel haben muss, damit der geistige Wind dem Schulschiff Fahrt verleiht. Natürlich sollte das Geistige nicht nur in den Kindern, sondern auch bei den Lehrern, ihren Vorbildern, wehen. Sie leben Entwicklung vor, setzen sich auch in den Wind und bilden daraus Formen im Unterricht und in der Verwaltung. Sich gemeinsam in den Wind stellen ist eine anspruchsvolle Aufgabe für eine Gruppe. Die Menschenkunde Rudolf Steiners kann den Mast bilden, welcher der Gemeinschaft in bewegten Zeiten Halt gibt, um das Segel im Geiste aufrecht halten zu können. Die täglichen pädagogischen Fragen immer wieder auf die Grundfragen menschlichen Seins und Werdens zurückzuführen, das gelingt durch nichts besser, als durch eine intensive Auseinandersetzung mit den pädagogischen Grundlagen. Dadurch entsteht in der Crew die Voraussetzung, das Schulschiff sicher führen zu können.
Ohne Individualitäten keine Gemeinschaft
Die Crew besteht vorerst aus Individualitäten, genauer: aus Egoisten. Man mag großherzig sein und verständnisvoll, und dennoch sollte man sich eingestehen, dass man den eigenen Zielen und Bedürfnissen naturgemäß den größten Platz einräumt. Gehen wir gemeinsam auf eine Fahrt, dürfen wir das nicht außer acht lassen. Es gibt viele Lippenbekenntnisse, die diesen Umstand schön reden: Tatsache ist, das Gemeinsame muss erst gebildet werden.
Und das ist auch gut so! Denn das Individuum ist der Quellort jeder Aktivität, Initiative zündet im Einzelnen. Auch wenn die Gemeinschaft den Boden dafür bildet, wächst das Neue nicht durch ein vorgegebenes Gruppendiktat. Wir dürfen uns keinen Illusionen über den Egoismus hingeben. Er wirkt zerstörend auf vielen Gebieten. Doch: Wie kann man ihn erkennen und handhaben lernen, wenn er nicht in Erscheinung tritt? Erst in diesem Moment ergibt sich die Gelegenheit, ihn zu erkennen und sein Widerlager, die Selbstlosigkeit ins Spiel zu bringen. Mal Drama, mal Komödie – der Reichtum sozialen Lebens ereignet sich in diesem Spannungsfeld, hier zeigt sich das Neue, das Rudolf Steiner folgendermaßen ausdrückt:
»Es ist einfach nicht wahr, dass irgendein Mensch selbstlos sein kann. Wahr ist aber, dass seine Selbstsucht sich so veredeln kann, dass er Interesse nicht nur an seinen eigenen, sondern an den Angelegenheiten der ganzen Menschheit gewinnt. Predigt den Menschen nicht: Sie sollen selbstlos sein, aber pflanzet in sie die höchsten Interessen, auf dass sich an diese ihre Selbstsucht, ihr Egoismus heften. Dann veredelt ihr eine Kraft, die wirklich in dem Menschen liegt; sonst redet ihr von etwas, was es nie geben kann, was aber die Menschen nur zu Lügnern machen kann.« Steiner dreht die übliche moralische Keule »sei selbstlos« um. Aus dem Gegner Egoismus wird das Werkzeug Egoismus. Der Ausgangspunkt ist eine reale Kraft in uns und nicht eine Wunschvorstellung.
Keine Gemeinschaft ohne etwas, das sie übersteigt
Rudolf Steiner hat den ersten Lehrerkurs mit einer Meditation begonnen. Das ist die Taufe und zugleich die Perspektive für die Schulführung. Wie vermutlich jede Form innerer Vertiefung bedeutet auch diese geistige Overtüre, sowohl den Wind des Geistes wahrzunehmen, als auch ihn hervorzubringen. In der Meditation wird ein Weg gezeigt, den »geistigen Wind« als selbstverständlichen Teil der Arbeit verstehen zu lernen. Es ist ein großes Wort, aber ohne das immer wieder neue Suchen und Fragen nach den Kräften der geistigen Ebene, die in der christlichen Tradition als Engel, als Erzengel und als Archai angesprochen werden, fehlt der menschlichen Gemeinschaft neben der seelischen Verbundenheit das geistige Band.
Auch hier ist der Ausgangspunkt das Individuum, das seinen eigenen Weg geht, aber einen, der ganz auf das Werdende ausgerichtet ist. Er rechnet mit der Produktivität des Einzelnen. Sie zu fördern, ist die vornehmste Aufgabe der Kollegen. Lebt Anerkennung der persönlichen Schöpferkraft in der Gruppe, dann ist es auch ein Bedürfnis, die Ergebnisse weiterzugeben. Daraus bildet sich die wahre Gemeinschaft, die Gemeinschaft in der einer dem andern etwas zu geben hat. Manchmal steigert es sich noch weiter, indem die Gemeinschaft von einem Tropfen des Weisheitslichtes beschenkt wird, eine Orientierung aus einer geistigen Ebene empfangen darf.
Oft sehnen wir uns nach einer Lösung außerhalb von uns selbst und geraten dann in Gefahr zu vergessen, dass die Lösung der Mensch selbst ist.
Die Erfahrungen, die wir in der Welt machen, werfen uns auf uns selbst zurück. In uns selbst liegt deshalb der Anfang jeder Veränderung. Eine Beratung hilft uns, Orientierung zu finden, kann im besten Fall Hebamme sein, aber niemals die Geburt übernehmen. Wir selbst sind es, die die Aufgabe ergreifen sollen. Es braucht Kraft und Mut, sich den Herausforderungen unserer Zeit zu stellen, denn wenn wir alles, was wir nicht sind, ausgeschlossen haben, wandern wir einsam, getrennt von den Mitmenschen und getrennt von einer geistigen Welt.
Wir sind in die Freiheit entlassen und haben dafür erstmals jetzt die Möglichkeit, aus freiem Willen auf andere Menschen zuzugehen, den Graben zu überwinden und mit ihnen eine Gemeinschaft zu gründen. Doch das Gemeinsame ist stets eine Neuschöpfung. Gelingt sie, wird uns der Mut geschenkt, auch unmöglich erscheinende Aufgaben anzupacken.
Es ist nicht einfach, eine Gemeinschaft zu bilden, in der nicht die Programme oder liebgewordene Strukturen dominieren, sondern in der die Menschen das Ein und Alles bilden. Sobald wir in die Formbildung gehen, müssen wir Entscheidungen treffen, Entscheidungen aus uns selbst, denn das Geistige braucht eine Form, einen Leib, um tatkräftig sein zu können. Selbstverwaltung hat ihre Wurzeln in der inneren Selbstständigkeit. Und innere Selbstständigkeit ist es, zu der wir die heranwachsenden Menschen befähigen wollen. Sie ist wohl das vornehmste Ziel unserer Schulen. Selbstverwaltung ist Vorbild und Boden für diese innere Selbstständigkeit, sie ist die Form, die der Geist der Waldorfschule sucht.
Zum Autor: Florian Osswald ist Leiter der Pädagogischen Sektion des Goetheanum in Dornach.