Die Hand denkt. Warum gibt es Formenzeichnen?

Olga Schiefer

Die Waldorfpädagogik will die Individualität des Menschen ansprechen und ihre Fähigkeiten zur Entfaltung bringen. Einen Schlüssel dazu bietet die Kunst. Denn das Formenzeichnen fällt in den Bereich des Kunstunterrichtes, der sich von der ersten Klasse bis zum Schulende durchzieht. Das Malen einerseits und das Zeichnen andererseits sind Bestandteile des Faches Bildende Kunst. Das Formenzeichnen steht am Anfang des Zeichnens und erstreckt sich durch die ersten Schuljahre bis zur 6. Klasse.

Schon in der ersten Schulstunde lernen die Kinder in der Waldorfschule die Polarität des Geraden und des Gebogenen kennen. Es sind die beiden Gestaltungskräfte, die der Welt zugrunde liegen. Johannes Kepler beschreibt sie folgendermaßen: »Die Welt der Linien ist vor der Erschaffung der Dinge gleich ewig wie Gottes Geist. In seinem Geiste widerleuchtend, hat sie ihm die Urbilder geliefert zum Kunstbau dieser Welt, damit sie die schönste und beste und dem Schöpfer ähnlich werde.«

Durch das Formenzeichnen wird der Schönheitssinn der Kinder angesprochen. Die Schönheit fordert Anschaulichkeit und unmittelbare Empfindung. Die Formen sollen nicht nur verstanden, sondern auch gefühlt werden. Ganz konzentriert zieht das Kind eine Linie. Mit Hingabe und voller Aufmerksamkeit entstehen die vielfältigen und harmonischen Formen. Wiederholend und stets aufs Neue bemüht versucht das Kind, den Zauber und das Gesetzmäßige der Formen zu erfassen. Das »Richtige« gelingt, wenn es sich als »schön« zeigt – als ein Kunstwerk. Zuerst werden die Formen mit großen Bewegungen in der Luft gezeichnet, manchmal sogar gelaufen, dann erst kommen sie aufs Papier. Der ganze Mensch muss dabei beteiligt sein, in seinem Bewegungsorganismus, seinem Gefühl, seiner Vorstellungskraft und seinem Denken – besonders wenn es um schwierige, verschlungene oder sich verwandelnde Formen geht. Nicht nur das Gesetz der Form – ihre genauen Abstände und Größenverhältnisse –, sondern auch die Geschmeidigkeit der Linien und das Gefühl der Stimmigkeit des Zusammenklingens und der Gestik sind wichtig. Das alles fördert nicht nur eine präzise Handbewegung, sondern auch das künstlerische Empfinden, das ästhetische Gefühl.

Formen in der Natur – Formen im Menschen

In der Natur selbst, in jeder Blattform, in der Bildung eines jeden Gesteins, in der Bewegung des Wassers lebt das Prinzip der Schönheit und Harmonie. Dieses geistige Prinzip, die formbildende Kraft, liegt dem Unterrichtsfach Formenzeichnen zugrunde. In ihm geht es um das Werdende. Die der äußeren Form innewohnende, geistige Sprache ist den Kindern noch vertraut. Die Verbundenheit des Kindes mit den inneren Kräften der Natur bietet die Möglichkeit, im künstlerischen Tun diese Sprache unbewusst zu »verstehen«. Als Erwachsener steht man der Welt viel distanzierter gegenüber: Es hat eine Trennung zwischen Welt und Selbst stattgefunden.

Es ist Rudolf Steiner wichtig gewesen, das Kind in seinem entwicklungsbedingten Seelenzustand zu stärken. Diesen Blick hat auch der Künstler, der durch das schöpferische Tun und das ständige Üben sich diesen »kindlichen« Blick wieder aneignen kann, im Sinne von Paul Cézanne: »Die Natur ist im Innern.« Das Beheimatetsein und das Verweilen in diesem »Mit-der-Welt-verbunden-Sein« bietet dem Kind einen Schutz vor dem bloßen Naturalismus. Denn das naturalistische Abbild der äußeren Welt zeigt nur die Oberfläche der Dinge und nicht unbedingt das ihnen innenwohnende »Reale«. »Die Natur ist nicht an der Oberfläche, sie ist in der Tiefe. Die Farben sind Ausdruck dieser Tiefe an der Ober­­fläche. Sie steigen aus den Wurzeln der Welt auf. Sie sind ihr Leben, das Leben der Ideen« – sagt Cézanne. Die beiden Qualitäten – das Innere und das Äußere – bilden das Ganze. Das eine liegt im Verborgenen, das Andere zeigt sich in der äußeren Farbe und Form. In unserer heutigen Kultur gelten Wissen, Verstehen und Überprüfen als das »Reale«. Das Verborgene bleibt weitestgehend unbeachtet. In der Waldorf­pädagogik wird angestrebt, auch das Verborgene sichtbar zu machen – mittels des Gefühls.

Die Wirksamkeit der Formen

Die Tätigkeit des Formenzeichnens an sich ist mit dem Beenden der Zeichnung nicht abgeschlossen, sondern lebt im Inneren des Kindes weiter. Die Formen, besser gesagt die formbildenden Kräfte, mit denen wir uns tagsüber beschäftigen, schwingen in der Nacht in uns weiter und vervollständigen sich: »Und dadurch bereitet man während des Wachens den Äther- oder Bildekräfteleib dazu vor, während des Schlafens fortwährend weiterzuschwingen, aber in diesen Schwingungen das beim Wachen Durchgemachte zu vervollkommnen. Dann wacht der Mensch, das Kind, am Morgen auf in einem innerlich bewegten und organisch bewegten Bildekräfteleib, und damit auch physischen Leib. Das bringt eine ungeheure Lebendigkeit in den Menschen hinein« (Rudolf Steiner). Dadurch wird das Geübte verlebendigt, wirkt gesundend, und die Urbilder, die erzeugt werden, bleiben nicht an der Oberfläche haften, sondern wirken den Körper und den Geist bildend weiter.

Denken und Zeichnen

An einem Informationstag an der Freien Hochschule Stuttgart gab ich den Teilnehmern eine kurze Einführung in das Formenzeichnen. Nach einem Austausch ließ ich die Teilnehmer die verschiedenen Formen abzeichnen. Auf meine Frage hin – »Was haben Sie erlebt? Um was handelt es sich Ihrer Meinung nach bei dem Formenzeichnen?« – erläuterte ein Teilnehmer, dass er eine sehr starke Verbindung zwischen der Tätigkeit der Hand und der Arbeit des Gehirns erlebt habe. Aber auch Lebendigkeit und Fantasie wurden angesprochen. Diesen Zusammenhang stellt ebenso die heutige Hirnforschung fest. Die Untersuchungen von Manfred Spitzer weisen einen Zusammenhang zwischen Motorik – Bewegungsabläufen – und Sehen nach. Aus der Forschung geht hervor, dass die Vernetzung der beiden Hirnregionen, welche für das Sehen und die Motorik zuständig sind, einen entscheidenden Einfluss auf die Denkgeschwindigkeit hat.

Dennoch handelt es sich beim Formenzeichnen nicht nur um eine bloße Verbindung zwischen der Handbewegung und dem Sehen, und nicht nur darum, die Denkgeschwindigkeit zu erhöhen, sondern es geht hier um die Wirkung einer künstlerischen Tätigkeit. »Wenn man (…) das Kind diesen künstlerisch geleiteten Zeichenunterricht genießen lässt, so merkt man, wie dadurch, dass ja das Kind genötigt ist, seine Finger, seinen ganzen Arm in einer gewissen Weise zu bewegen, nicht etwa bloß vom Denken auszugehen, sondern von der Geschicklichkeit auszugehen, dass das Ich dazu kommt, den Intellekt als etwas, was wie eine Konsequenz erscheint des ganzen Menschen, in sich entwickeln zu lassen« (Rudolf Steiner).

Wenngleich aus den Formen die Schrift und die Geometrie entwickelt werden, bleibt das Fach natürlich auch als reines Kunstfach bestehen. Doch viel bedeutender ist, dass alles künstlerische Tun ein wichtiges Mittel ist, um das Denken zu bilden. Die »Hand denkt« ist das Motto des Formenzeichnens. Das heißt nicht, der Intellekt, der Kopf an sich denkt, sondern er denkt mittels der Hand – des Willens und des Gefühls. Man kann eigentlich sagen, die Hand denkt »das Schöne«! Aus diesen Ausführungen heraus erhält der bekannte Satz des russischen Schriftstellers Fjodor Dostojewskij »Die Schönheit rettet die Welt« eine neue Bedeutung.

Von der reinen Form zum Körper

Schaut man auf die Veränderung der Formensprache im Verlauf des Schulunterrichtes, stellt man eine Beziehung zwischen dem Inhalt des Formenzeichnens und der Entwicklung der Kinder fest, das heißt, die Formqualität in den verschiedenen Klassenstufen wird verändert. In der ersten Klasse gehen wir von der Ganzheit der Formelemente aus, in der zweiten Klasse steht die Formspiegelung im Vordergrund und in der dritten die Metamorphose. Die vierte Klasse beschäftigt sich mit den Flechtbändern, was einen neuen Aspekt beinhaltet: auf der einen Seite die räumliche Erscheinung, auf der anderen eine geschichtliche Anbindung an die Formen aus dem keltischen Kulturraum. Die fünfte Klasse greift das Motiv der griechischen Ornamente auf, aber auch die Geometrie wird aus dem Formenzeichnen entwickelt – bekannt als Freihandgeometrie.

Seinen größten Umschwung erfährt das Formenzeichnen in der sechsten Klasse. Der neue Schritt im Unterricht hängt mit der einsetzenden Fähigkeit der Raumwahrnehmung bei den Zwölfjährigen zusammen. Denn das räumliche Sehen ist eine Fähigkeit, die ab dem 9. Lebensjahr umstrukturiert wird, wenn das räumliche Verstehen in das Sehen eingreift und ausreift. Diese Veränderung der Wahrnehmung spiegelt sich im Zeichnen wider. So wird die reine Linienführung zur räumlichen Form geführt.

In der Mittelstufe treten also die Gesetze der äußeren Welt ins Bewusstsein der Schüler und werden an den Gegenständen selbst sichtbar. Durch beleuchtete und schattige Flächen erscheinen die Gegenstände. Entscheidend ist es, zu verstehen, wie die beiden Polaritäten Licht und Schatten zusammenhängen. Hier handelt es sich um eine kausale Gesetzmäßigkeit – denn der Schatten ist das Ergebnis des Lichts. Eben diese Gesetzmäßigkeit bietet die Grundlage für den Einstieg in die neue künstlerische Thematik der Mittel- und beginnenden Oberstufe bis zur neunten Klasse hin. In einem Vortrag führt Steiner aus, dass durch dieses »Entwickeln eines Raumgefühls (…), durch die Anschauung dessen, was geschieht, wenn Schattenfiguren entstehen, (…) indem durch dieses alles der Wille entwickelt wird, der Mensch zu einem viel besseren Verständnis der Dinge gelangt (…) als durch das Verstandesmäßige«. Die künstlerische Tätigkeit erfasst den ganzen Menschen und verbindet dessen schöpferischen Willen mit dem reinen Verstand. Somit streben wir an, nicht nur die Gesetze des Sichtbaren zu verstehen, sondern mittels des künstlerischen Ansatzes ein Raumgefühl zu entwickeln.

So steht der Mensch der Welt nicht als ein abstrakter Denker gegenüber, sondern als ein Mitfühlender, als ein Mitwirkender. Das Denken soll ein lebendiges sein.

Anhand des Formenzeichnens in Zusammenhang mit dem Zeichenunterricht lässt sich ein grundlegendes Prinzip der Waldorfpädagogik verbildlichen: In der Unterstufe geht es um die Arbeit mit den reinen Kräften der Linie, mit der Formensprache ihrer Urbilder und darum, einen fruchtbaren Boden zu bilden, der in der Pubertät zur zeichnerischen Beschäftigung mit der äußeren Welt und ihren Gesetzmäßigkeiten führen soll. Die erstere Tätigkeit ist im Inneren verankert, sie wird aus dem Kind, aus seinen Fähigkeiten und seiner Fantasie herausgeholt. Die Letztere entzündet sich an der Begegnung mit der äußeren Welt.

Diese Gebärde ist in jedem Unterrichtsfach der Waldorfschule vorhanden, sie wird im Zeichenunterricht jedoch verbildlicht.

Zur Autorin: Olga Schiefer studierte Bildende Kunst mit Schwerpunkt Malerei an der Kunstakademie in Moskau sowie Waldorfpädagogik am Moskauer Lehrerseminar. Sie ist Dozentin für Bildende Kunst an der Freien Hochschule Stuttgart

Literatur: U. Becks-Malorny: Paul Cézanne, 1839-1906, Wegbereiter der Moderne, Köln, 1995; R. Steiner: Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung, Vortrag vom 14.8.1923, Ilkley, GA 307; ders.: Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft, Vortrag vom 26.4.1920, GA 301; ders.: Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft, Vortrag vom 20.5.1920, GA 301