Bindung und Lebensglück
Herbstzeit im Waldorfkindergarten: Kastanien werden gesammelt, bunte Blätter schmücken den Raum, es wird vom Erzengel Sankt Michael gesungen und erzählt. Ein viereinhalbjähriges Mädchen ist tief beeindruckt. Leise singt es die Lieder auch zu Hause als Spielbegleitung, sucht die nötigen Utensilien zusammen, um daheim »Michael« zu spielen. Zu einem Geburtstagsfest geladen, kleidet es sich – energisch und beharrlich seinen Willen behauptend – mit Schwert am Gürtel, Flügeln und einer geeigneten Kappe als Helm: »Ich bin Sankt Michael!«. Beim Abholen nach der Feier trägt es immer noch Flügel und Schwert, hat aber nun, da man Feuerwehr gespielt hat, einen Feuerwehrhelm auf! »Michael« wird voll und ganz »erlebt«, einverleibt, das Mädchen identifiziert sich mit dem Erlebten, die Erlebnisse des Tages werden seelisch »eingebunden« in diesen größeren Zusammenhang, der bestimmend wirkt.
Die Grundlage innerer Standfestigkeit und Sicherheit, aus der man als Erwachsener selbstständig und verantwortungsbewusst zu handeln vermag und selbst Bindungsfähigkeiten entwickeln kann, wird in den ersten Lebensjahren gelegt. Eine anregende Umgebung, die keinesfalls chaotisch oder verwirrend sein darf, eingebunden in liebevolle Interaktionen zwischen Kind und Bezugsperson, ist offensichtlich eine wichtige Voraussetzung für den Aufbau einer gelingenden »Bindungsbeziehung«.
Der Kinderarzt Remo Largo beklagt zu Recht die Bindungslosigkeit mit der damit einhergehenden sozialen Vernachlässigung, wenngleich ein zwingend kausaler Zusammenhang zwischen früher Bindungslosigkeit und späterer Bindungsunfähigkeit angesichts gegenteiliger biographischer Erfahrungen wie zum Beispiel der Martin Bubers nicht herzustellen ist. Ungeklärt ist bis heute, auf welchem Wege oder mit welchen Techniken es Kindern mit Bindungsdefiziten gelingt, diese Negativerfahrungen später zu kompensieren oder sogar biographisch so zu bewältigen, dass sich ausgeprägte Bindungsfähigkeiten daraus entwickeln (Rittelmeyer).
Die Heranwachsenden heute scheinen aber ein feines Gespür dafür zu haben, dass einer gelingenden »Bindung« für das spätere Lebensglück eine entscheidende Bedeutung zukommt, denn:
Man braucht Familie, um glücklich zu sein!
Isolation als Lebensgefühl – und Sehnsucht nach Bindung; der Wunsch nach Selbstständigkeit – und nach einer eigenen Familie: Ausdruck eines Lebensgefühls, das symptomatisch ist für viele, vielleicht sogar für »die Jugend« heute?
Nach der aktuellen Shell-Studie (2010) halten 84 Prozent der befragten 12- bis 25-Jährigen die Unabhängigkeit von anderen Menschen für wichtig (63 Prozent davon sogar für sehr wichtig); aber mit dem Wunsch nach Unabhängigkeit korrespondiert die Wertschätzung der Freundschaft. Sie wird sehr hoch bewertet und ihre Bedeutung ist im Vergleich zu 2002 von 87 auf 94 Prozent gewachsen. Ähnlich hoch werden eine vertrauensvolle Partnerschaft (von 82 in 2002 auf 90 Prozent in 2010) und gutes Familienleben (von 67 auf 77 Prozent) bewertet. Bemerkenswert auch die hohe Wertschätzung eines Lebens mit vielen Kontakten zu anderen Menschen: Dieses wird von 87 Prozent der Befragten als wichtig betrachtet. Das Ziel ist eindeutig: Zusammen mit einem Partner, mit einer Familie und mit Freunden sein Leben eigenverantwortlich gestalten.
Doch die Möglichkeit seiner Verwirklichung hängt von den ökonomischen Verhältnissen ab, und hier erleben wir derzeit eine eher tragische Entwicklung in Richtung auf instabile Aussichten, weil sie die Hoffnung auf Erfüllbarkeit der geäußerten Lebensziele nachhaltig erschüttert. Aufbruch ins Ungewisse? Risikofreudigkeit? Aufbrechen überkommener Lebensformen? Das ist offensichtlich Schnee von vorgestern. Heute ersehnt man sich Zuverlässigkeit, Sicherheit und Ordnung. Dafür ist man als junger Mensch bereit, sich anzupassen und in bestehende Strukturen einzugliedern (Shell-Studie 2010).
Ist dieses Anpassungsdenken möglicherweise ein bewusster Kontrapunkt gegenüber der erlebten Gewissheit, dass die bestehenden Strukturen ins Rutschen geraten sind? Der Wunsch nach Lebensverwirklichung in der Idylle einer Kleinfamilie kontrastiert mit einer Erfahrung, die nahezu das Gegenteil des Ersehnten bedeutet. Denn neben der klassischen Form von Familie hat sich eine Vielzahl von Familienmodellen etabliert, von der Kleinstfamilie, bestehend aus einem Elternteil und einem Kind, über die Großfamilie und verschiedene Varianten der »Patchwork«- Familie. Wichtiger als die Form ist für das Wohlbefinden und die Zufriedenheit der Jugendlichen, dass ihre Eltern Zeit für sie haben, einen demokratischen und wenig autoritären Erziehungsstil pflegen und dass die familiäre Situation nicht durch materielle Engpässe angespannt ist.
Für ihre Zukunft orientieren sich die Jugendlichen an der »traditionellen« Familienform. Hier wird, in offensichtlicher Abgrenzung zum selbsterfahrenen »Muster«, die Bindungssicherheit erhofft, die gleichzeitig das Basislager für Streifzüge innerhalb eines Freundeskreises bilden kann.
Die Auflösung traditioneller Lebensformen geht einher mit der Destabilisierung langfristiger Arbeitsbeziehungen.
Mobilität ist gefordert, befristete Arbeitsverhältnisse, gerade für Berufseinsteiger, häufig aber auch die trüben Aussichten, von Praktikum zu Praktikum weitergereicht zu werden, kontrastieren heftig mit den Hoffnungen auf wirtschaftliche Sicherheit, welche die Basis zur Erfüllung der oben erhobenen Wunschvorstellungen bilden muss. Die ökonomische und persönliche Selbstständigkeit bleibt Fiktion angesichts der Realität des »Hotels Mama«, das mehr als ein Drittel der Jugendlichen zwischen 22 bis 25 Jahren bewohnen.
Das Projekt »Ich-Werdung«
Dieses hat tiefgreifende, vor allem psychische Folgen: Die Gegenwart wird alles, das heißt auch Erfüllungsort aller Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte, wenn die Aussichten auf Erfüllung in eben dieser Zukunft unsicher sind. Deswegen auch das scheinbare Paradox, das die Jugend zwar leistungsorientiert ist, gleichzeitig dabei aber keinesfalls auf den Lebensgenuss verzichtet. Das Lebensglück wird im aktuellen Augenblick gesucht: »Wenn du jetzt nicht glücklich bist, hast du später eine schlechte Vergangenheit« (Blog eines 18-Jährigen).
»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen«, dieses Diktum zeichnet die ältere Generation aus (signifikant die über 46-Jährigen). Die Jugend zweifelt mit Recht daran, wenn die Zukunft keine gesicherten Aussichten bereithält.
Das Ich, das Selbst muss sich aus diesem Grunde in der Gegenwart finden, behaupten, sichern. »Die Dichotomie erlaubt/verboten, die das Individuum bis in die 1950er und 1960er Jahre des letzten Jahrhunderts bestimmte, hat ihre Wirkung verloren … Das Recht, sich sein Leben zu wählen, und der Auftrag, man selbst zu werden, verorten das Individuum in einer ständigen Bewegung« (Ehrenberg). Dabei muss die Persönlichkeit sich, da sie nicht mehr durch die äußere Ordnung bewegt wird, »auf ihre eigenen inneren Antriebe stützen, auf ihre geistigen Fähigkeiten zurückgreifen. Die Begriffe Projekt, Motivation, Kommunikation bezeichnen heute die neuen Normen. … Das ideale Individuum wird nicht mehr an seiner Gefügigkeit gemessen, sondern an seiner Initiative« (Ehrenberg).
Das Projekt der »Ich-Werdung« ist riskant. Gefragt sind Authentizität und Initiativkraft, die sich vor allem an echten Erlebnissen, an echten Beziehungen entzünden können!
Mediale Auswege aus der Bindungskrise
Beziehungen konnten sich noch vor zwanzig Jahren durch Briefe »medial« realisieren: Der schriftliche Kontakt mit einem Briefpartner folgte der Dramaturgie des Schreibens, Einwerfens, Wartens, Lesens und des schriftlichen Antwortens. Damit wurde ein seelisches Schauspiel zur Aufführung gebracht, das die Akteure mit Haut und Haaren ergriff. Heute werden Liebesbeweise im Minutenrhythmus eingefordert. Freundschaft heißt verfügbar sein. Maximal drei Minuten lang wartet eine im Freundeskreis verschickte SMS durchschnittlich auf Antwort. Das Handy ist ein Körperteil geworden (Grimm).
Die durch die Medien in Bedrängnis geratene Kindheit findet ihre Weiterentwicklung in einer Jugend, die sich der Medien vordergründig professionell bedient, tiefergründig jedoch die Jugendlichen zu Bürgern zweier Welten macht, deren Grenzen häufig nicht mehr genau abzustecken sind: »Die Jugendlichen wachsen heute quasi als verdoppelte Persönlichkeiten auf: als sie selbst und als Account bei Schüler VZ & Co. Über 80 Prozent der 14- bis 17-Jährigen loggen sich mindestens einmal täglich in eines der sozialen Netzwerke ein« (Grimm). Auf der Strecke bleiben eben die das Selbst, das »Ich« stärkenden Kräfte der Authentizität und Realbegegnung. Es kommt zu skurrilen Scheinbegegnungen und paradoxen »Gesprächen«, deren Inhalt keinerlei Rolle spielt: »Wir sind süchtig danach, etwas zu sagen, egal, was«, schreibt eine 26-jährige Autorin. Im wirklichen Leben ringt man darum, verstanden zu werden. Man bemüht sich nach Kräften, auf den Anderen einzugehen, schult und erprobt damit seine Empathiekräfte. Dagegen bietet das Internet eine perfekte Plattform für all diejenigen, die sich im wahren Leben unverstanden fühlen. Man erfährt intime Details aus dem Leben von Menschen, die man gar nicht kennen möchte. Das Spiel mit virtuellen Identitäten geht auf paradoxe Weise einher mit dem Wunsch nach Authentizität und echten Erlebnissen, nach Anfassbarem (Grimm). Die Generation der 14- bis 17-Jährigen sucht Nähe, Freundschaft und »auf nahezu rührende Art die große Liebe«, hat der Leipziger Sexualforscher Kurt Starke ermittelt. Im Dauerstrom aus Mails, Chat-Beiträgen und SMS sehnen sich die Mädchen und Jungen nach einem Gefühl, das bleibt.
Erschöpft … oder zum Abflug bereit?
Das Pendeln zwischen beiden Welten, der virtuellen und der realen, dient einer Lebens-Sinnsuche, die Kräfte erfordert und bindet wie bei keiner bisherigen Generation. Die Verpflichtung, man selbst zu werden, sich nicht auf Gebote und Verbote verlassen zu können, sondern nur auf die persönliche Initiative jedes Einzelnen, markiert den Zeitpunkt, an welchem die Karriere der Zeitkrankheit »Depression« beginnt. »Der Depressive ist nicht voll auf der Höhe, er ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst zu werden« (Ehrenberg). Depression tritt heute bei Jugendlichen vermehrt auf. Möglicherweise sind sie tatsächlich »erschöpft«, denn Ich-Werdung verlangt von den Jugendlichen ständige Beweglichkeit zwischen der Anforderung, man selbst zu werden und dem Recht, sich sein eigenes Leben zu wählen. Dem »Selbst-Werden« durch »Selbsterfahrung« kann man durch die Flucht in virtuelle Welten ausweichen, der Wunsch nach selbstbestimmtem Leben zeichnet sich nicht durch phantasievolle Perspektiven, sondern durch Anlehnung an traditionelle Formen aus, die tendenziell überlebt sind.
Doch andererseits bieten dieses Beweglichseinmüssen und die Notwendigkeit, sein Leben selbst bestimmend in die Hand zu nehmen, ungeahnte Möglichkeiten! Möglichkeiten, bisher Unerhörtes, Ungesagtes und Unerfahrenes realisieren zu können, Möglichkeiten, Ideale eben nicht durch Anpassung einzuschläfern, sondern sie durch Initiative immer wieder zum Leben zu erwecken. Das verlangt allerdings Mut, Entschiedenheit und Selbstsicherheit.
Die Basis dieser Eigenschaften wird offensichtlich durch die frühkindliche Bindungsaktivität gelegt, die in den Entwicklungsjahren des Kindes immer wieder angefacht werden muss: ausgehend von der interpersonalen Bindung im ersten Lebensjahr, über das Vorbild, das es nachzuahmen gilt, zur seelischen Bindungsfähigkeit in der Haltung einer »liebevollen Autorität« gegenüber, der sich nachzufolgen lohnt, bis hin zur Selbstständigkeit im Urteilen, aus der bewusst neue Bindungen mit »Menschen und Dingen« eingegangen werden können.
Gelingt diese Metamorphose der »Bindungskräfte«, dann kann daraus der Optimismus, die Zuversicht, aus eigenen Kräften die Zukunft gestalten zu können, als sicher gegründetes Lebensgefühl entstehen. Dieses verleiht der Seele »Flügel«. Alles wird möglich, man muss es nur wagen: »Letztes Jahr habe ich mir meinen größten Wunsch erfüllt und mir Flügel auf den Rücken tätowieren lassen. Von den Schultern bis zur Taille reichen die. Sie wachsen sozusagen aus meinen Schulterblättern, und die unteren Federspitzen liegen gefaltet übereinander. Zum Abflug bereit. Ruhe vor dem Sturm« (Zitat einer 20-Jährigen in Grimm).
Literatur: Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst, Frankfurt 2008 | Fred Grimm (Hrsg.): »Wir wollen eine andere Welt«. Jugend in Deutschland 1900 – 2010, Berlin 2010 | Christan Rittelmeyer: Frühe Erfahrungen des Kindes, Stuttgart 2005 Shell Deutschland Holding (Hrsg.): Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich, Frankfurt a. M. 2010