Mashad ist der zentrale Pilgerort im Iran und eine der vier heiligen Stätten in der schiitisch-muslimischen Welt. Dort befindet sich auch die Ruhestätte des achten Imam, Ali Reza, zu der täglich Tausende von Menschen pilgern, um ihn zu ehren und zu beten.
Es war im Herbst und es dunkelte schon, als wir uns auf den Weg zum Heiligtum begaben, dessen Kuppel von den Strahlen der untergehenden Sonne funkelte. Bald verlor ich meine Freundin im Gedränge aus den Augen. Ich war zum ersten Mal hier und in dieser Zeit kamen die einzigen Ausländer aus den Nachbarländern. Bevor ich mich versah, befand ich mich allein im Innenhof, der zum Schrein des Imam Reza führte. Trotz des Gewimmels herrschte Stille.
Meine Freundin in diesem Durcheinander zu finden, hatte wohl keinen Sinn. Ich entschied mich, einer kleinen Gruppe von Frauen zu folgen.
Genau wie sie war ich von Kopf bis zu Fuß in eine Art Oberkleid gehüllt, ein Tuch, das ich mit beiden Händen um mich herum hielt. Meine neugierigen Blicke wurden schon dadurch beschränkt. Ich war mit mir allein.
Nach einiger Zeit erreichten wir eine Eingangspforte.
Vor dem Zugang hing ein schwerer Vorhang. Ich huschte hinter den Frauen hinein und gelangte über einen Gang mit verschiedenen geschlossenen Türen in ein Zimmer, in dem eine Frau hinter einem kleinen Tisch sass. Sie hielt einen schwarzen Chador bereit, legte diesen aber beiseite, sobald sie mich hereintreten sah.
Es war eine ältere Frau. Lange Zeit blieb es still, bis sie fragte: »Sind Sie Muslimin?« Im Bruchteil einer Sekunde gingen mir alle möglichen Antworten durch den Kopf. Während wir einander unverwandt anschauten, hörte ich, wie ich sagte: »Ich bin Christin« – und gleichzeitig wurde mir bewusst, dass ich nie zuvor in meinem Leben mich in einer Lage befunden hatte, in der ich diese Worte offen und laut in Gegenwart eines Mitmenschen ausgesprochen hatte. In ihren Augen las ich eine erschütternde Mischung aus Achtung und Bedauern. Schließlich nahm sie meine Hand in die ihre und sagte: »Bebahshid! – Es tut mir leid! Ich kann Sie nicht hereinlassen.«
»Danke«, habe ich nur gesagt. Wie könnte ich ihr gebührend danken, ihr, die mir ermöglicht hatte, dieses »Bekenntnis« so auszusprechen, dass es in ihrer Gegenwart erst wahr wurde? Und hier und nirgendwo anders war mir diese Möglichkeit geschenkt geworden, denn es gibt keinen Ort auf der Welt, wo nicht der Auferstandene lebt. Als ich schließlich gegen den Strom der Pilger den Weg zurückging, wuchs in mir das wundervolle Wissen, einen Moment lang zu Hause gewesen zu sein.
Zur Autorin: Christine Gruwez studierte Philosophie, Altphilologie und Iranistik und war als Waldorflehrerin und in der Lehrerausbildung in Antwerpen tätig. Zahlreiche Forschungsreisen in den Nahen und Mittleren Osten. Publizistin, Dozentin und Vortragende in der ganzen Welt.