Aber ist das der richtige Zugang? Gegenwärtig liegt viel Spannung in der Luft. Mehr als sonst. Wie empfinden wir diese und wie gehen wir damit um?
Das betrifft die Frage nach der Zukunft der Waldorfpädagogik, die Frage nach der Stärkung der Demokratie, Klimawandel und – wenig überraschend – den Umgang mit den gebotenen Corona-Schutz-Maßnahmen. Oft erlebe ich, dass die Spannung nicht mehr ertragen wird und wir den Kipppunkt überschreiten, der zur Zerrissenheit führt. Ich habe dies schmerzlich im Freundeskreis und im Kollegium erleben müssen.
Was hilft dagegen? Zum Beispiel das Bewusstsein: Spannungen sind gut! Sie gründen in Vielfalt, weil sie durch verschiedene Sichtweisen auf ein Thema entstehen. Das bringt Tiefenwirkung, Perspektive und Buntheit ins Leben. Dabei kommt es auf den eigenen Standpunkt an. Andere schauen von anderen Punkten aus. Das bereichert mich und holt mich aus meiner einseitigen Perspektive heraus. Wir sprechen und streiten. Damit erst erschaffen wir die Welt als gemeinsamen Ort.
Damit dies gelingt und wir die positive Energie, die in der Spannung liegt, erleben, müssen wir einige Fertigkeiten mitbringen. Das wiederum ist der Kern des Bildungsauftrags von Schule. Die Waldorfschule hat hier einiges zu bieten. Darauf sollten wir uns besinnen! Ich muss nicht den Standpunkt des anderen einnehmen, aber wir müssen uns auf eine gemeinsame Methode des Weltzugangs einigen. Das Motto der Oberstufe lautet: »Die Welt ist wahr!« Dann heißt das, zu akzeptieren, dass sie nicht so ist, wie ich sie gern sehen möchte, sondern dass ich auf die Dinge schaue und mich von der Wahrnehmung belehren lasse. So eine eigenständige Weltaneignung kann mit der Phänomenologie trefflich geübt werden. Das sind wir unseren Schülern schuldig. Aber diese Fähigkeit müssen sie an uns erleben.
Um handeln zu können, müssen wir demokratische Entscheidungen treffen. Dass dies ohne Zerwürfnisse geht, sollten die »Erwachsenen« in den Schulen vorleben. Auch dass es möglich ist, die Verbindlichkeit von Gruppenentscheidungen zu akzeptieren, ohne dass die widerstreitenden Sichtweisen vorher aufgelöst werden. Das ist nicht schlimm! Innerhalb der methodischen Regelungen der Demokratie werden für alle Gruppenmitglieder verbindliche Entscheidungen getroffen. Diese Verbindlichkeit ist zu akzeptieren. Solange, bis dieselbe Gruppe die Entscheidung ändert und wiederum demokratisch aufhebt.
Wir brauchen ein positives Verhältnis zur Spannung und sollten uns darin üben, sie als Energiequelle und Lebenselixier zu nutzen. Die Kunst macht es uns vor: Was wäre Musik ohne die Spannung von Dissonanz und Konsonanz? Was Bilder ohne Form und Farbspannung – wovon sollte ein Drama leben? Ist es nicht ein Glück, dass keiner alles weiß, dass wir die Freiheit haben, zu entscheiden und dass wir lernen können, Spannungen als Energiequellen zu nutzen? Wenn das Grundgefühl, in einer wahren Welt zu leben, als Basis vorhanden ist!
Hans G. Hutzel ist Vorstandsmitglied im Bund der Freien Waldorfschulen.