Fragen eines Ehemaligen an die Waldorfschule

Benjamin Kolass

1. »Die Welt brennt, und wir machen Eurythmie« lautete der Titel unserer bundesweiten Schülertagung. Es war die Zeit des ersten Irakkriegs, ich besuchte die 11. Klasse, nachmittags gingen wir demonstrieren.

Der Satz war ernst gemeint. Können wir nette Kunst machen, solange Notärzte, Lebensmittel für hungernde Kinder oder Feuerwehrleute dringender gebraucht werden?

Mit der Frage blieben wir allein. Kein Lehrer griff sie auf … bis auf einen: Er rezitierte mit uns Goethes »Prometheus« auf dem Schlossplatz. Wir verstanden ihn ohne große Erklärung. Wahrscheinlich würde er heute keine Anstellung in der Oberstufe bekommen – als Schauspieler ohne Prüfungsberechtigung. Doch bei ihm war Kunst mehr als bürgerliches Statussymbol, Sahnehäubchen, lauwarmes Gewedel oder Ego-Shooting. Kunst hatte bei ihm keinen Zweck, sie hatte Sinn.

2. Erziehungskunst. Ich hatte damals nur eine dunkle Ahnung und verstand erst später, dass das, was die Erziehung in der Waldorfschule ausmacht, nicht in der direkten Anwendungsmöglichkeit zu suchen ist. Freilich habe ich eine Menge Praktisches gelernt, vom Melken über das Musikinstrument bis zum Grundverständnis eines Computer-Chips. Und nebenbei erlangte ich ein sehr gutes Ergebnis im Mathe-Leistungskurs. Doch solche allgemeinen Kulturpraktiken kann jede Pädagogik vermitteln. Dagegen waren die Bewegungen der Eurythmie, die genauen Beobachtungen in der Naturwissenschaft oder die Denkübungen anhand von Parabeln und Parallelen keine Vorbereitungen für gute Künstler oder Bauzeichner. Sie stärkten das Denken, trainierten den Umgang mit Gefühlen und waren anregend für eine produktive Auseinandersetzung mit der Welt.

3. Im Sportverein oder im Tanzkurs begegneten uns die Standardfragen: Fühlt Ihr Euch eigentlich irgendwie anders? Habt Ihr es schwerer, in der Gesellschaft zu bestehen, Euch zu bewerben oder einzugliedern? Schön, dass Ihr so viel Musik macht, aber was ist das eigentlich, dieser Tanz mit Schleiern, die – wie heißt das noch mal …? Jeder Waldorfschüler hat seine Antworten darauf. Auch wenn er sich fühlt, wie ein bemitleideter Eisbär im südländischen Zoo, wenn er versichert, dass er sehr gut in dieser Welt klar kommt. Heute möchte ich dem widersprechen. Wir kommen nicht klar. Weil die Gesellschaft anders ist. Und es wäre doch schade, wenn die exotischen Unterrichtsfächer, die vielen Elternabende und Konferenzen nur dazu dienten, uns besser einzugliedern, erfolgreicher zu sein.

Woran misst die Waldorfwelt ihren Erfolg? Welche Maßstäbe könnte es geben außer der Abi-Quote und der Anzahl akademischer Titel? Die vielen interessanten und individuellen Persönlichkeiten, die jährlich die Schule verlassen, sind schwer messbar. Doch ihre Qualitäten könnten sichtbarer werden, wenn zum Beispiel Dinge wie die Jahresarbeiten einen höheren Stellenwert bekämen. Denn wir haben mehr zu bieten als konservative Innenminister und Hollywood-Sternchen.

4. Was brauchen Waldorfschüler nach der Schule? Gewiss sollen sie sich mit der Welt, in der sie leben, auseinandersetzen, mit ihr ringen und sie verändern. Eine konstruktive Auseinandersetzung steht mit der Frage der Berufsfindung an. Brauchen wir  Arbeitsamt-Broschüren im Schülercafé? Der eben neu erschienene Film »Berufswege« (www.berufswege.com) zeigt beispielhaft, wie es anders gehen kann. Wo setzen wir fort, was wir als Ideal in der Erziehung etabliert haben: etwas aus Interesse und Begeisterung zu tun? Oder: Wie erhalte und entwickle ich Begeisterung, auch später an den Aufgaben in der Gesellschaft? Wo sind die anthroposophisch orientierten Institutionen, die akzeptieren, dass wir anders sind? Nicht schräger, bunter, künstlerischer – sondern anders!

5. Spätestens als ich meine Tanzkurs-Liebe für einen Tag im Gymnasium besuchte, war klar, dass ich auf der richtigen Schule war. Jetzt wollte ich wissen, was an meiner Schule anders ist. Und bis heute bedauere ich die Angst vor zu viel Ideologie. Die beinahe feige Verdrängung, das Nicht-Wissen macht uns zum Sklaven der Gewohnheiten. Wissen um die Herkunft, um die Grundlagen einer Erziehung ermöglicht einen produktiven Umgang damit.

Ist es vielleicht an der Zeit, am Ursprung wieder anzuknüpfen, an dem die Waldorfschule Teil und Folge einer Bewegung war, die alle Bereiche der Gesellschaft berührte, die die feudale und bürgerliche Restkultur ablöste und die sozialistische Bewegung wesentlich transformierte? – Vielleicht wird das jetzt im Ländle wieder möglich.

Inwieweit sind die Waldorfschulen noch ein ernstzunehmender, erneuernder Kulturfaktor? Oder werden sie von den Medien nur deshalb abwechselnd mit halb-wohlwollender Ironie besprochen oder in die Rassismus-Ecke geschubst, weil man sie als Privatschulbewegung in dieser Größe mit einer Zielgruppe, die überdurchschnittlich viele lesende Menschen aufweist, nicht ganz vernachlässigen kann? Was bewegen die Waldorfschulen darüber hinaus?

6. Manchmal frage ich mich: Sollte ich in guter alter Familientradition, nach Groß­vater und Vater nicht auch Waldorflehrer werden? Doch nach wie vor schreckt mich die Institution Schule als solche ab. Sie ist wie ein Krankenhaus oder Altenheim, eine Welt in der Welt, mit starren eigenen Regeln, sozialen Beziehungen und Verhaltensmustern. Das ist sinnvoll, denn heranwachsende Menschen brauchen das. Und es ist Unsinn, denn die Regeln und Verhaltensmuster sind längst nicht mehr für alle gleich. Würde mich ein erfahrener Lehrer zur Hospitation in einer Epoche einladen, ich würde wahrscheinlich kommen. Doch ins Seminar sitzen? Mein Unterrichtsstoff wäre sekundär. Ich würde unterrichten, was aktuell im Leben ansteht und an diesem Stoff Methoden vermitteln, grundlegende Fähigkeiten die überall gebraucht werden.

An meiner alten Schule unterrichtete ich Projektmanagement parallel zum Einstudieren eines Klassenspiels. Ich freute mich darauf, mit den Schülern etwas zu entwickeln. Doch sie waren vor allem darin geschult, Aufgaben im 45-Minuten-Takt abzuarbeiten. Wo sind das selbstständige Denken, das eigenverantwortliche Be­arbeiten von Aufgaben über einen längeren Zeitraum geblieben?

7. Die eigentliche Frage ist jedoch nicht, was ich erlebt habe und anders oder gleich machen würde. Die Frage ist, wie muss Erziehung sein in einer Gesellschaft, in welcher Menschen heranwachsen, die eine Welt ohne Handy und Computer nicht mehr erlebt haben, die völlig neue Kommunikations- und Beziehungsformen, ein anderes Rezipieren der Welt, ein anderes Denken und neue  Umgangsformen entwickeln? Was braucht es im neuen Jahrtausend, um Schule zu machen? Sind die Waldorfschulen da noch unserer Kultur voraus? Oder rennen sie hinterher?

Zum Autor: Benjamin Kolass, Jahrgang 1975, besuchte die Waldorfschule Engelberg. Studium der Literatur und Geschichte in Berlin, Young Entrepreneur Programm, Kunstschaffender und Herausgeber der »projekt.zeitung«.