Heileurythmie in der Schule – wozu eigentlich?

Erika Leiste

Zum Beispiel Lisa. Ein liebenswürdiges elfjähriges Mädchen, strömend freund­lich – sie hat ja auch eine »kommunikative Lücke« zwischen den beiden Frontzähnen, zwischen welchen ihre Seele ungehindert hinausströmen kann. So liebens­würdig, aber leider – schwer erträglich! Sie zappelt unablässig herum, ist sofort in allen vier Ecken des Raumes zuhause, redet wie ein Wasserfall, ihre glatten braunen Haare flattern in alle Richtungen. Wie schafft es bloß ihr Lehrer, sie noch zu unterrichten? Sie ist gekommen mit der Diagnose: Hyperaktivität und Legasthenie. Da gibt es eine wunderbare Heileurythmiereihe: MN BP AU.

M – ein Laut, der ruhevoll, warm und verständnisvoll in den Raum hineintastet.

N – ein Laut, mit dem man die Außenwelt an sich heranziehen kann, außerdem wirkt er gegen Diarrhoe, warum nicht auch gegen Logorrhoe?

B – ein Laut, der eine warme Hülle um einen legt, der einen auch abgrenzen kann von der Umgebung, mit dem man sich selber Grenzen setzen kann.

P – ein Laut, der das B verstärkt, auch wirkt er gegen Bettnässen, gegen Ausfließen, das tut Lisa ja sehr.

A – ein Inkarnationslaut, man kommt zu sich,

U – ein Laut, der einem einerseits Ruhe geben kann. Andererseits auch ein Laut, der einen auf sanfte Weise in die Umwelt hinausführen kann.

Das wäre doch ideal, das alles braucht sie!

Also M – behutsam, ruhevoll in den Raum hinein tasten … Aber was macht sie?

Sie fuchtelt herum mit ihren dünnen Ärmchen – sie kann es gar nicht. Vielleicht mit Springen? Als Stoffwechsellaut? Alle diese Laute kann man die Kinder auch gut springen lassen, und ich weiß aus Erfahrung, wenn sie das machen, dann sind sie am Ende wirklich ruhig, so ruhig, dass sie sich gar nicht mehr bewegen wollen … Aber bei Lisa funktioniert das nicht. Nach einer Minute wirft sie sich verzagt und verzweifelt auf den nächstbesten Stuhl: »Ich kann nicht mehr!« – und ich merke, ich habe sie überfordert, ich habe sie gekränkt, verletzt, gar nicht richtig verstanden. Langsam dämmert es mir: Sie kann wirklich nicht, der zarte dünne Leib ist gar nicht in der Lage, diese temperamentvolle sprühende Seele aufzufangen und zu beherbergen. Seelisch flattert sie herum und ist gar nicht bei sich.

Im Heilpädagogischen Kurs schildert Rudolf Steiner solche Kinder. Er beschreibt, wie bei manchen das Seelisch-Geistige herausrinnt, wie dadurch das Kind zu weit draußen ist, sich wund stößt. Dadurch, so Steiner, »entsteht ein zu großes

Bewusstsein an der Willensentfaltung, es entsteht ein Schmerz bei der Willensentfaltung. Im Entstehungsstadium ist dieser Schmerz da. Man will ihn zurückhalten. Das geschieht intensiv. Man zappelt im Tun, weil man den Schmerz zurückhalten will.«

Tief beschämt sage ich mir: Liebe Lisa, jetzt erst verstehe ich Dich. Und ich fühle plötzlich, wie meine eigene Haut Löcher hat, wie ich herausrinne, herausfalle, wie schmerzhaft ich an der Umgebung anstoße. – Und eine tiefe Liebe zu dem Kind wächst in mir, jetzt weiß ich, wie ich mit ihr, neben ihr die Laute führen muss, um das Seelisch-Geistige hereinzulocken, atmend, ein- und ausatmend. Ich weiß, dass ich auch den Leib konsolidieren muss, damit er überhaupt eine geeignete Hülle für diesen Menschen wird.

Die avisierte Lautreihe ist nicht ganz unpassend, aber jetzt muss ich sie nicht als Rezept ausführen, sondern nur für Lisa, individuell für sie.

M – warm begleitend, sanft, Balsam, ich muss sie mit dem M Hand an Hand begleiten, damit Wärme sich bilden kann.

B – konsolidierend, und gerne auch angemessen, abgemessen beschleunigt.

A – zum Einatmen,

U – zum Ausatmen, also A-U A-U A-U, und das U mit der

Saturnbewegung abschließen, das hat eine stark abgrenzende, hautbildende Wirkung.

Es wird trotzdem ein langer Weg sein, bis ihre feuchten Hände, ihre mageren Arme wirklich in die Bewegung eintauchen können. Aber wenn sie es gelernt hat, wenn sie gelernt hat, in ihren Leib einzuziehen – dann kann sie auch lesen.

So ist eigentlich jedes Kind ein neues Rätsel, das erraten werden möchte – auch mir, die ich ja schon viele hyperaktive Kinder behandelt habe.

Eine Lehrerin unserer Schule sagte: »Die Heileurythmie ist eine Art Weichenstellung. Anfangs ist es eine feine, fast unmerkliche Veränderung, und dann fährt der Zug in eine andere Richtung weiter.«

Zur Autorin: Erika Leiste war 24 Jahre lang Heileurythmistin an der Rudolf-Steiner-Schule München-Schwabing.