Ausgabe 03/24

Spezialisiert für die Oberstufe

Jürgen Beckmerhagen

Vom Fernbahnhof Kassel-Wilhelmshöhe gehen die Seminarist:innen wenige Schritte zur Brabanter Straße 30. Aus der Ferne grüßt Herkules, das Wahrzeichen der Stadt, wunderschön gelegen im Bergpark. Durch einen gepflegten Garten erreichen sie das Seminar in einem Jugendstilgebäude.

Olena Wietfeld begrüßt mich: «Ich habe nicht viel Zeit. Die Kurse hier gehen von 8 Uhr bis 19:30 Uhr und gleich beginnt der künstlerische Teil.» Olena Wietfeld, Herdis Haenecke und Flemming Holdorf erzählen, weshalb sie sich für dieses Seminar entschieden haben.
«Ich habe einen Bachelor in Computer Science und war viele Jahre als Beraterin in der IT-Branche tätig», beginnt Wietfeld. «Meine Tochter ging zuerst auf eine staatliche Grundschule und ich stellte mir vor, dass es bessere Bildungswege geben müsse.» Ihr Sohn besuchte gleich die Neuwieder Waldorfschule und die Tochter folgte. Nach einer beruflichen Auszeit traf Wietfeld eine Entscheidung: «Zurück in die IT-Welt? Das kam für mich nicht in Frage. Stattdessen beschloss ich, mein Wissen in Mathe und Informatik weiterzugeben – in der Oberstufe der Waldorfschule.» Wietfeld absolviert berufsbegleitend ihren Master für Physik und Mathematik an der Alanus Hochschule in Alfter. Für die Fachdidaktik und Pädagogik nimmt sie jeweils im November und Februar an zweiwöchigen Kursen in Kassel teil.

«Zusätzlich haben wir noch die internationale Fortbildungswoche», ergänzt Haenecke, Sportlehrerin aus Berlin. «Ich habe zweimal teilgenommen, auch mit internationalen Studierenden. Es ist immer eine großartige Chance, Kolleg:innen aus der Ferne zu treffen. Ein bunter Abend, der spaßig ist und wie ein großes Klassentreffen wirkt, mit vielen spannenden Menschen und regem Austausch», schwärmt die diplomierte Sportwissenschaftlerin. «Trotz meiner Prägung durch zwei Lehrkräfte als Eltern hatte ich mir fest vorgenommen, nie denselben Weg einzuschlagen. Die Familie und die Rolle als Mutter haben meine Perspektive gewandelt, und so fand ich mich auf dem Lehrer:innenpfad wieder.» Während ihrer Tätigkeit an der Waldorfschule Kleinmachnow am Rande Berlins durchläuft Haenecke ein straffes Blockstudium zur Sportlehrerin: Zwei Jahre jeweils einen ein- und einen zweiwöchigen Kurs in Kassel, ergänzt durch Wochenendseminare in Freiburg. «Die Unterstützung meiner Familie war entscheidend. Sie hat mir den Mut und den Freiraum gegeben, den ich brauchte. Ohne sie wäre es mir nicht möglich gewesen», betont Haenecke.

Holdorf, ohne familiäre Verpflichtungen, hat es womöglich einfacher: «Meinen Weg würde ich als klassisch bezeichnen. Nach dem Abitur an der Waldorfschule in Kiel studierte ich direkt an der Uni Deutsch und Geschichte fürs Lehramt, ohne das Ziel, Waldorflehrer zu werden.» Sein Praktikum an der Waldorfschule in Eckernförde sollte nur acht Wochen dauern. Es kam anders: «Ich bin geblieben. Erst übernahm ich Gastepochen, während Corona half ich im Online-Unterricht aus. Später betreute ich vorübergehend eine achte Klasse und schließlich bot sich die Chance, in den Deutschunterricht der Oberstufe hineinzuwachsen.» Sein ursprünglicher Plan, das Referendariat anzuschließen, verzögerte sich: «Mein Studium habe ich abgeschlossen, nur das Referendariat fehlt.» Seine pädagogische und fachdidaktische Ausbildung für die Waldorfpädagogik absolviert er stattdessen in Kassel.

Haenecke erzählt von einem Schlüsselerlebnis: «Ich durfte als Gast an einer Prüfung teilnehmen, obwohl das Ende meines eigenen Studiums noch bevorstand. Inmitten der Dozent:innen saß ich und beobachtete die Prüflinge. Besonders beeindruckt hat mich, wie am Ende des Tages die Dozierenden den Geprüften mit warmen Worten und Ratschlägen begegneten. Dieses Erlebnis zeigte mir, wie die Dozent:innen die Entwicklung der Studierenden verfolgen und würdigen. Es war ein bewegender Moment.»

Rita Schumacher, Dozentin für Deutsch und Geschichte, betont den Stellenwert praktischer Forschung im Kasseler Seminar: «Es geht darum, Literatur so zu vermitteln, dass sie zu echten Begegnungen mit der Welt wird.» Die gebürtige Oberbayerin und Waldorfschülerin verbindet ihre Qualifikation als Gymnasiallehrerin mit Erfahrung in der Waldorfpädagogik. Ihre Bildungspassion führte sie um die Welt – nach Russland, in die Ukraine, nach Rumänien und China. Sie verbindet klassische Waldorfpädagogik mit moderner Bildung, um die Waldorf-Philosophie mit Wissen, Weiterbildung und kultureller Vielfalt weiterzuentwickeln.

In Kassel treffen Forschung und Lehre wie zwei Flüsse an einem Wasserfall aufeinander. Die dabei freigesetzte Energie schafft neues Wissen in der Lehre. Dieses Bild führt zu zwei Naturwissenschaftlern: Wilfried Sommer und Dirk Rohde promovierten, der eine in Frankfurt, der andere in Marburg, und gingen den akademischen Weg bis zur Professur weiter. Sie erkannten das Potential der Lehrer:innenbildung, wenn sie diese auf eine akademische Basis stellen. Sommer, von Haus aus Physiker: «Ich bin in den anthropologischen Grundlagenkursen tätig, in der Physikdidaktik, bin vorstandsseitig auch für die Lehrmittelabteilung verantwortlich, für die pädagogische Forschungsstelle und mache naturwissenschaftliche Lehrer:innenbildung – Science Education zwischen Kalifornien und Peking.» Dirk Rohde, examinierter Waldorf-Oberstufenlehrer für Biologie und Chemie: «Neben dem pädagogischen habe ich einen starken forscherischen Impuls. In meiner Dissertation und Habilitation und darüber hinaus habe ich mich intensiv empirisch forschend mit der Waldorfpädagogik auseinandergesetzt. In die entsprechenden Diskussionen schalte ich mich regelmäßig ein und verfasse einschlägige Fachartikel.» Sommer ergänzt: «Das Ziel war immer, Forschung und Lehre zu vereinen. Besonders im naturwissenschaftlichen Oberstufenunterricht an Waldorfschulen entwickeln wir ein Konzept, das über den Reduktionismus hinausreicht.»

Rita Schumacher stellt sich gegen starre Lehrmethoden und einseitige Sichtweisen. Sie plädiert für eine vielfältige Unterrichtsgestaltung, «in der man schon in der Art, wie man die Gegenstände behandelt, jeglichen Dogmatismus zurückweist». Schumacher warnt davor, die Deutungshoheit über die Welt nur Expert:innen zu überlassen. Sie sieht darin eine Gefahr, Jugendliche in eine Position der Hilflosigkeit zu drängen, abgeschnitten von der Realität.
Sie beobachtet, wie Jugendliche oft überfordert sind, wenn sie komplexe Ereignisse wie die im Nahen Osten verstehen sollen. Ihre Informationen stammen meist nur aus den Medien. Schumacher sieht die Lösung in einer forschenden Haltung und einer ständigen Aktualisierung des Unterrichts. «Dass man trotzdem sagt, ich werde einen Weg finden, das für mich zu verifizieren und meine eigenen Urteile zu bilden.»

Wilfried Sommer fasziniert «Steiners Konzept einer weltverbindenden Dimension des Intellekts». Er spricht über kritische Entwicklungsphasen im Alter von zwölf bis 14 Jahren, die entscheidend für die intellektuelle Entwicklung sind und betont, wie wichtig der Intellekt in der Waldorfpädagogik ist, indem er verschiedene anthropologische Modelle diskutiert.

Zum Schluss unterstreicht er die Notwendigkeit eines fundierten, naturwissenschaftlichen Weltverständnisses, um einen Beitrag zu ökologischen Fragen zu leisten. «Wenn wir wollen, dass Waldorfpädagogik zur ökologischen Frage einen Beitrag leistet, brauchen wir ein intellektuell begründetes naturwissenschaftliches Weltverhältnis», fasst er zusammen.

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