Sprich Dich gesund

Dorothea Krüger

Die meisten Kinder lernen die Laute von außen nach innen: die Lippenlaute (Mama, Papa) können vor den Gaumenlauten gebildet werden. Manche sagen noch lange »Tanne« statt »Kanne«, bevor sie ganz hinten im Gaumen angekommen sind. Aber es gibt auch Kinder, denen die Gaumenaktivität leichter fällt, als die der Zungenspitze, zu denen also die »Kanke« zu Besuch kommt. Am schwierigsten sind die Zischlaute, die mit der Zunge am Zahndamm gebildet werden. Die Zitrone kann daher auch zur Kastrone werden. Ein wirklich scharfes »s« oder »z« setzt die Abgrenzung durch den Zaun der Zähne voraus und ist daher erst nach dem Zahnwechsel zu erwarten.

Jeder Laut entspricht einer seelischen Haltung

Jeder einzelne Laut hat eine ihm eigene Gebärde. Was geschieht zum Beispiel, wenn wir ein »b« sprechen? Es schließen und öffnen sich die Lippen, aber nicht nur die Lippen. Wenn wir ein Kind beobachten, das seinen Mund nie schließt, wenn wir bedenken, in welchen Momenten uns »der Mund offen stehen bleibt« oder wenn wir einen Gegenstand mit offenem und geschlossenem Mund betrachten, wird uns deutlich, dass sich im Öffnen und Schließen der Lippen auch die seelische Haltung zur Umgebung ausdrückt. Beim »m« sind die Lippen geschlossen, aber die Atemluft strömt durch die Nase. Dem Duft einer leckeren Speise antwortet die Seele gerne mit dieser Lautgebärde, während wohl noch niemand »b« zum duftenden Marmorkuchen gesagt hat. »Ssssst« wird nirgends als Aufforderung zum Lärmen eingesetzt werden. So stellen wir uns mit jeder Lautbildung anders zu unserer Umwelt, wir verändern unsere »Weltanschauung«. Übung und Pflege einer guten Artikulation können die Seele zur fein differenzierten Begegnung mit der Umwelt anregen.

Kräftigung am gesunden Widerstand

Es ist immer ein kleines Fest, wenn ein Kind einen neuen Laut erlernt hat. Es hat sich dann ein Stück Welt erobert. Wenn ein Kind, das gewöhnlich nuschelt, plötzlich klar und deutlich spricht, kann man den Eindruck haben, dass es wie neu geboren ist: Der Blick erscheint wacher, die Haltung strafft sich, es wirkt selbstbewusster und konzentrierter. Wie kommt das?

Bei jeder Konsonantenbildung verengen oder verschließen die Sprachwerkzeuge den Atemweg. Hierzu muss eine Vielzahl von Muskeln aktiviert werden. Eine harmonische Lautbildung erfasst also den ganzen Menschen und bewirkt einen gesunden Atemwiderstand, an dem sich die Stimmkraft in wohltönender Weise entfaltet. Die Rückstauung der Atemluft versetzt den ganzen Leib in Schwingung. Diese Sprachvibrationen können wir äußerlich nachempfinden, wenn wir unsere Hände auf den Rücken, auf unseren Kopf oder auf unser Gesicht legen und unterschiedlich kräftig artikulieren. Wir spüren dann die entsprechende Intensität der Vibration. Dass insbesondere die Pflege einer durchatmeten Lautbildung der Nasale »m« und »n« vorbeugend und therapeutisch gegen Nasennebenhöhlenerkrankungen wirken kann, wird dann nicht überraschen.

Harmonisierung durch Rhythmus

Mit jeder Silbe wird der Atemstrom mindestens einmal durch einen Konsonanten unterbrochen oder zumindest gehemmt. In dieser wilden Zergliederung des Atems liegt zunächst nichts Gesundendes. Sprechen heißt: Chaotisierung des Atem-Puls-Rhythmus. Die Ausatmung wird verlängert und zergliedert, die Einatmung verkürzt. Die Poesie zergliedert den Atem jedoch in rhythmischer Weise. Wir können unmittelbar erleben, wie wir in eine andere Sphäre eintauchen, wenn wir vom Prosasprechen ins rhythmische Sprechen übergehen. In jedem Hauptunterricht wird mit den Rhythmen der Sprache gearbeitet. Ein markantes Beispiel ist das Hexametersprechen in der 5. Klasse. Im Hexameter, dem Rhythmus, in dem die großen Epen der Griechen verfasst sind, vollzieht sich die Rhythmisierung des Atemsprechstromes im Verhältnis 1:4.

Sage  mir,  Muse,  die Taten,       des vielgewanderten Mannes

_  . .   _ ..     _ .       (.           _.) .       _.(.)           _..       _.

1        2       3           4                       1           2            3        4

Welcher so weit   geirrt             nach der heiligen Troja Zerstörung

Eine Zeile ist in zwei viergliedrige Atembögen unterteilt, wobei das vierte Glied jeweils in der Pause liegt, also nicht gesprochen wird. So wird beim Hexametersprechen zwar die Ausatmung extrem verlängert und die Einatmung verkürzt, doch in einer rhythmischen Form, die einem harmonischen Atem-Puls-Verhältnis entspricht. Hierin liegt die Heilkraft des Hexameters begründet: Unvoreingenommene Versuchspersonen beschreiben ihr Befinden nach der Hexameterrezitation mit Äußerungen wie »klarer im Kopf, tiefere Atmung«, »im guten Sinne schwer«, »frischer, wie nach dem Schlafen«. Dies bestätigen Messergebnisse: Im Anschluss an das Hexametersprechen wird eine Synchronisation von Puls- und Atem erreicht, die sonst nur im Schlaf zu finden ist.

Durch Steiners Anregung wird der Hexameter in der 5. Klasse mit den Schülern geübt. Untersuchungen des Schularztes Matthiolius zeigen, dass in diesem Alter Puls und Atmung synchronisiert sind wie nie zuvor und danach, mit Beginn der Pubertät, zunächst nicht mehr. Die Lehrplanangabe nutzt also ein Entwicklungsfenster, in dem eine Anlage zur Harmonie aufgegriffen und zur Fähigkeit ausgebildet werden kann. Die Einprägung dieses Rhythmus in den kindlichen Organismus kann und soll den Sturz ins Pubertätschaos nicht verhindern, aber dazu beitragen, dass der menschliche Grundrhythmus wieder gefunden werden kann.

Das atemgetragene Sprechen verbindet den Gedanken- und den Willensstrom im Menschen. Es kann pädagogisch mehr in die eine oder andere Richtung gearbeitet werden.

Beim Hexametersprechen dominiert das Vorstellen. In der vierten Klasse, wenn sich die Kinder nach dem »Rubikon« mit wachem Blick und neuer Kraft auf den Boden stellen, wird der Stabreim geübt, bei dem der Wille ausschlaggebend ist. Damit sich im Sprechen Gedanken- und Willensstrom gesund verbinden können, braucht das Kind zu beiden einen Zugang. Steiner betont daher, dass man ein Kind niemals etwas sprechen lassen sollte, was es nicht versteht. Damit ist nicht intellektuell-interpretierendes Verstehen gemeint und keinesfalls, dass ein Kind nicht sprachlich anspruchsvolle Dichtung sprechen könnte, sondern es geht um die Möglichkeit, sich seelisch mit dem Inhalt, dem sprachlichen Bild, zu verbinden. Das ist durchaus auch bei Dichtung möglich, die das intellektuelle Auffassungsvermögen übersteigt.

Der Körper spricht und hört mit

Die lautliche Sprache ist nur ein Teil des durch den ganzen Körper sprechenden Menschen. Lautbildungsschwierigkeiten oder ein mangelndes Rhythmusempfinden äußern sich gleichermaßen in der äußeren Bewegung wie in der Sprache, die als verinnerlichte Bewegung betrachtet werden kann.

Bei der Sprachwahrnehmung vollzieht der Hörende feinste, mit gewöhnlicher Beobachtung unsichtbare Muskelbewegungen. Er ist mit seinem ganzen Körper mitbewegtes Sprach-Ohr. Diese Aktivität des Muskelmenschen kann nicht bewusst beeinflusst werden. Wir können nicht anders, als gehörte Sprache mittun. Wäre das im Mitdenken und Mitfühlen genauso, würden wir uns nie missverstehen.

Empathiefähigkeit stärken

Das Mitfühlen beruht auf dem Mitschwingen im Atem. Eine diese Tatsache berücksichtigende musikalische und sprachkünstlerische Erziehung stärkt die Empathiekräfte. Die Alltagssprache lässt das Atemschwingen nur begrenzt zu. Hierin liegt wohl eine Begründung dafür, dass Steiner für Vortragsredner und Lehrer die Annäherung an ein künstlerisches Sprechen anstrebte: »Man sollte fortwährend ... darauf bedacht sein, die Sprache als solche zu kultivieren.«

Bevor Steiner den Lehrern die Sprachpflege der Schüler ans Herz legte, entwickelte er Sprachübungen, die schon vor der Eröffnung der ersten Waldorfschule mit den Kollegen geübt wurden. Die durch ihn und Marie Steiner initiierte Kunst der Sprachgestaltung ist auch heute ein zentraler Bestandteil der Waldorflehrerbildung, wirkt sich doch jegliches Sprechen des Erziehenden stets unmittelbar auf die leibliche und seelisch-geistige Gesundheit der Kinder aus.

Zur Autorin: Dorothea Krüger arbeitet als Sprachgestalterin an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe.

Literatur:

S. Maintier: Sprache – die unsichtbare Schöpfung in der Luft. Forschung zur Aerodynamik der Sprachlaute, Hamburg 2014 | H. Matthiolius, H.-M. Thiemann und G. Hildebrandt: »Wandlungen der Rhythmischen Funktionsordnung von Puls und Atmung im Schulalter«, in: Der Merkurstab 1995, Jahrgang 48, Heft 4, S. 297-312  | D. von Bonin u.a.: »Wirkungen von Sprachtherapie auf die kardiorespiratorische Interaktion. Teil 2.: Menschenkundliche Gesichtspunkte», in: Der Merkurstab 2005, Jahrgang 58, Heft 2. S. 185-196 | J. Zinke (Hrsg. R. Patzlaff): Luftlautformen sichtbar gemacht. Sprache als plastische Gestaltung der Luft, Stuttgart 2001 | R. Steiner: Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis (GA 302a). Anregungen zur innerlichen Durchdringung des Lehr- und Erzieherberufes: Erster Vortrag, 15. Oktober 1923, Stuttgart: Gymnast, Rhetor, Doktor und ihre lebendige Synthese, Dornach 1972