Beziehung durch Erziehung
Mit Sätzen wie »Beziehung kommt vor Erziehung« oder »Waldorfpädagogik ist Beziehungspädagogik« kann ich, je öfter ich sie höre, desto weniger etwas anfangen. Was soll Pädagogik, egal welcher Provenienz, denn anderes sein als gelebte Beziehung. Kommt man aus dem (pleonastischen) Unsinn doch noch zu einem Sinn?
Es kann nicht Aufgabe des Pädagogen sein, Beziehung per se zu pflegen. Dort, wo ich solche Tendenzen wahrgenommen habe, ist es mir nicht leichtgefallen, das Objektive, das Klare, das Freilassende und Unbelastete zu entdecken. Pädagogik hat den Auftrag, durch Inhalte zu erziehen und dadurch Beziehung zu bilden. Also eigentlich müsste der Satz richtig heißen: »Beziehung entsteht durch Erziehung«. Erziehung ist, wie allgemein bekannt, nicht Dressur und nicht Konditionierung, sondern Seelenbildung. Und Seelenbildung geschieht in der Pädagogik ganz allgemein und an Waldorfschulen in besonderem Maße durch Inhalte, durch das Heranbilden von Bewusstsein, von Vorstellungen. An Waldorfschulen in besonderem Maße deshalb, weil bei ihnen verstärkt auf die sorgfältige Auswahl bestimmter Inhalte für bestimmte Altersstufen Wert gelegt wird.
So trifft beispielsweise die Behandlung einer Figur wie Kolumbus, der nicht mehr nur aus Erfahrung und Anschauung handelt, sondern einem Gedanken, den er als wahr erkannt hat, vertraut, auf das erwachende, logische und selbstständig werdende Denken des 13-Jährigen, der an diesem Geschichtsbeispiel eine Antwort auf seine latente Frage, ob man denn dem Denken vertrauen könne, erhält. Das ist Seelenbildung durch Erziehung und inhaltsvolle Beziehungspflege. Es ist das Schicksal oder die Lebensaufgabe des Pädagogen, dass er seine Beziehung zum Schüler vorrangig dadurch zu gestalten hat, dass er über das Vorstellungsleben, über das Bewusstmachen, letztlich über Inhalte, Seelenbildung vollzieht.
Fügt man diese Inhalte über die Jahre aneinander, erhält man das zwölfjährige Bildungsprogramm oder den Lehrplan der Waldorfschulen. Ausführlich und sorgfältig ist er in dem Buch Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschule beschrieben (erhältlich über www.waldorfbuch.de oder überall im Buchhandel). Den Eltern an unseren Schulen möchte ich dieses Werk ans Herz legen. Es beschreibt genau, welche Inhalte wann und warum vermittelt werden und führt so zu einem verständigen Begleiten der Erziehung und Seelenbildung durch Inhalte.
Stefan Grosse ist Klassen- und Religionslehrer an der FWS Esslingen und Mitglied des Vorstandes des Bundes der Freien Waldorfschulen.
Tillman Kieser, Herne, 02.12.21 18:12
Ich möchte eher ungern erneut einem Beitrag von Herrn Grosse entgegnen, alleine schon, um nicht in ein Hin- und Her von Rede und Gegenrede zu kommen, das erfahrungsgemäß wenig fruchtbar ist.
Ich würde deshalb hoffen, dass sich Eurythmistinnen, Werklehrerinnen, Klassenlehrerinnen, Kunstlehrerinnen und vielleicht vor allem Schülerinnen und Schüler finden, die dem Bild des Bildungsprogramms der Waldorfschule als einer Sammlung von Inhalten zur Vorstellungsbildung an die Seite stellen, was es mit der persönlichkeits- und beziehungsbildenden Wirkung von künstlerischen und praktisch-handwerklichen Unterrichten auf sich hat.
Peter Stickel, Karlsruhe, 04.01.22 17:01
Herr Grosse versucht in seinem Beitrag die Begriffe Erziehung und Beziehung als pleonastischen Unsinn zu markieren, indem er postuliert, dass Erziehung immer auch schon Beziehung beinhaltet. Seine Überlegungen gipfeln in der kühnen These: „Beziehung entsteht durch Erziehung“. Des Weiteren lese ich in dem Text, dass Inhalte des Waldorflehrplans an und für sich beziehungsstiftende Werkzeuge seien – „inhaltsvolle Beziehungspflege“. Die imperative Behauptung, dass es „Lebensaufgabe des Pädagogen (sei,)… seine Beziehung zum Schüler … über das Vorstellungsleben“ zu vollziehen, befremdet mich zusätzlich.
So sehr ich Anhänger des Waldorflehrplans bin, weil er die Entwicklungsphasenabhängigkeit der Inhalte betont und darin m.E. ein Alleinstellungsmerkmal für sich in Anspruch nehmen kann, so sehr irritiert mich in diesem Beitrag der abwertende Ton mit Blick auf das Thema Beziehung. Je jünger ein Kind ist, um so mehr ist es die Beziehung zum anderen Menschen, die Entwicklung erst in Gang bringt. Und zu den wichtigsten Menschen zählen nach den Eltern auch die Lehrer:innen. Inhalte können ihre Wirkung nur da entfalten, wo sie aus Sicherheit vermittelnden und empathischen Beziehungen entspringen. Ob mit Columbus die latente Frage der Schülerin, ob sie ihrem Denken vertrauen kann, beantwortet ist, ist nicht durch die Tatsache entschieden, dass sie 13 Jahre ist und diese Frage eigentlich dran sein müsste. Die Lehrkraft, die für eine gute Beziehung zu ihren Schüler:innen sorgt und sie auch pflegt, wird auch deren (latente) Fragen leichter sehen und die Inhalte entwicklungsfördernd formen und vortragen. Sachkundliche Inhalte, handwerkliche und künstlerische Aktivitäten stehen im Mittelpunkt pädagogischer Auseinandersetzungen und Bemühungen. Beziehungen und Gefühle, „Elemente des Zwischenmenschlichen“ (Buber), werden hingegen in der professionellen (!) Reflexion innerhalb von Lehrerkollegien vernachlässigt.
Das erzieherische Verhältnis, so Martin Buber, ist ein zutiefst dialogisches. „Vertrauen zur Welt, weil es diesen Menschen gibt – das ist das innerlichste Werk des erzieherischen Verhältnisses.“
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