Freiheit statt Willkür

Von Henning Kullak-Ublick, November 2020

Reden wir mal über die Freiheit. Es gibt ein wunderbares Bild, das wir im letzten Jahr – Sie erinnern sich? 2019? – oft verwendet haben, um Waldorf 100 zu erklären: Drei pakistanische Jungen balancieren in ihren Schuluniformen auf einer komplett zerfledderten Behelfsbrücke über einen ebenso breiten wie reißenden, braun verwirbelten Strom, der ihr Dorf von ihrer Schule trennt. Was zieht sie so sehr an, dass sie zweimal täglich dieser Gefahr trotzen?

Der Balanceakt der Jungen auf dem Weg in ihre Zukunft ist so real wie der Balanceakt der Freiheit, die, wie der Frieden oder die Liebe, niemals gesichert ist. Was der Strom für die Jungen ist, sind zwei nicht minder gefährliche Wegelagerer für die Freiheit: Willkür und Beliebigkeit. Was die eine erzwingt, lässt die andere verwehen.

Die Waldorfschule ist das erstgeborene Kind einer Bewegung, die nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs Freiheit für das Geistes- und Kulturleben forderte, Gleichheit in einem Rechtsstaat und eine Marktwirtschaft, die nicht auf Lohnabhängigkeit und Profitmaximierung, sondern auf der Zusammenarbeit der Menschen in ihrer Verantwortung für die Ressourcen und das Leben der Erde beruht: Brüderlichkeit. Freiheit, Demokratie und die Liebe zur Welt sind Ideen, die unsere Fähigkeit, selbstständig zu denken, mit anderen zu fühlen und verantwortlich zu handeln, zum Überleben brauchen.

Deshalb ist auch die Meinungsfreiheit ein sehr hohes und schützenswertes Gut. Meinung ist aber immer persönlich, während ein freies Geistesleben die Unabhängigkeit der Medien, der wissenschaftlichen, kulturellen und Bildungs-Einrichtungen vor politischer, ideologischer oder wirtschaftlicher Instrumentalisierung sicherstellen will. Wenn sich, wie immer öfter geschehen, Menschen bei Querdenker-Demos neben Neonazis oder Reichsbürger stellen, in sozialen Medien Verschwörungsmythen verbreiten oder sonstwelche Panikattacken öffentlich zelebrieren, tun sie das im Rahmen ihrer Meinungsfreiheit. Wenn sie sich dabei allerdings auf ihre Verbindung mit einer Waldorfschule berufen, fällt das in den Bereich der Willkür, ihrer Willkür. Und wenn sie das dann auch noch im Namen des »freien Geisteslebens« tun, wird dieser Begriff beliebig.

Dass in den letzten Monaten fast alle überregionalen Medien irgendwann »Reichsbürger, Neonazis, Esoteriker, Impfgegner und Anthroposophen« in eine Reihe gestellt haben, verdanken wir solchen im besten Fall naiven Auftritten, die keineswegs repräsentativ waren und von denen sich der Bund der Freien Waldorfschulen ausdrücklich distanziert hat – von dem meist unterirdischen journalistischen Niveau dieser Artikel einmal abgesehen.

Der Balanceakt zur Freiheit kann nur gelingen, wenn wir den Kampf mit den Wegelagerern erst einmal mit uns selbst ausmachen, statt mit dem Finger auf irgendwelche Bösewichter zu zeigen und uns dadurch auf der Seite der Guten zu wähnen.

Wilhelm-Ernst-Barkhoff sagte es so: »Die Angst vor einer Zukunft, die wir fürchten, können wir nur überwinden durch Bilder einer Zukunft, die wir wollen.« Wie die Jungs in Pakistan.

Kommentare

Maria-Luise Murswiek, 30.11.20 17:11

"Dass in den letzten Monaten fast alle überregionalen Medien irgendwann »Reichsbürger, Neonazis, Esoteriker, Impfgegner und Anthroposophen« in eine Reihe gestellt haben" verdanken wir einer ganz gezielten Medienkampagne, die verzerrt und in diffamierender Weise darstellt, was nicht in die verordnete Weltanschauung passt. Cui bono?

Ich schöpfe große Hoffnung, wenn ich erlebe, dass immer mehr Menschen die Zeichen der Zeit erkennen und sich mutig positionieren.

Herzlichen Dank, dass Sie auf die Schwachstellen in Herrn Kulak-Ublicks Stellungnahme zeigen und ihm den seichten Kurs nicht durchgehen lassen.

Tobias Kühl, Berlin, 07.12.20 15:12

Nach aktuell bestem Wissen verliert ein Mensch, der an CoVID-19 stirbt, durchschnittlich gut 12 Jahre seines Lebens. Ein Kind, das eine Maske trägt, verliert etwa 1-1,5 Jahre Maskenfreiheit. Natürlich ist es so, dass sich ein Jahr in der Kindheit länger anfühlt als ein Jahr Rente - aber sicherlich nicht acht Mal so lang (außerdem ist sattsam bekannt, dass Kinder einschneidende Veränderungen wesentlich besser verarbeiten können als Erwachsene). Auch können Menschenleben nicht gegeneinander aufgerechnet werden - aber gerade dann sollte uns doch der Schutz eines Menschenleben heiliger sein als der Schutz vor Unbequemlichkeit!
Hegel schrieb "Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit", und Steiner verwies regelmäßig darauf, dass die Notwendigkeit von äußeren Einrichtungen von seinen Vorschlägen nicht infrage gestellt werden sollen. Wenn man seine "Grundmaxime der freien Menschen" auf das Gesetz der großen Zahl anwendet, ist das als gut zu betrachten, was der größten Zahl an Menschen die Möglichkeit gibt, sich im sozialen Miteinander zu verwirklichen. Das bedeutet auch, dass der Schutz vor einem unnötig frühen Tod ein Gut ist. Schweden und Großbritannien zeigen exemplarisch, dass der gezielte Schutz von besonders gefährdeten Gruppen nicht so gut funktioniert wie das breitere Vorgehen in Deutschland.
Der oft bemühte "Untertanengeist" lässt sich in meinen Augen sehr gut beobachten an Stellen, wo eine ohnmächtige Haltung gegenüber als konzertiert empfundene Veränderungen stilisiert wird (- ich erinnere hier an das Chaos an Empfehlungen vor den ersten Lockdown; da war nichts konzertiert). Ein freier Bürger (im Gegensatz zum unwilligen Untertan) sollte in der Lage sein, die Notwendigkeit einer Reaktion auf die Bedrohung durch das Virus zu erkennen.
Selbstverständlich müssen wir uns als Gesellschaft fragen, wie wichtig beispielsweise Kunst und Kultur sind, und ob sie nicht mehr Schutz verdient haben, als ihnen vonseiten der Regierung zugestanden wird. Immerhin ist dieser Sektor der zweitgrößte Arbeitgeber nach der Autoindustrie. Bei aller berechtigten Kritik sollten wir allerdings auch nicht aus den Augen verlieren, das die aktuelle Entwicklung einige faszinierende und positive Auswirkungen hat. Nachbarschaftshilfe ist ein wesentlich größeres Thema als letztes Jahr, problematische Bedingungen wie in der Pflege werden thematisiert, und veraltete Einrichtungen wie die ständige Präsenzpflicht für Büroarbeit (eine Ursache für den Berufsverkehr) werden diskutiert.
Wenn dann auf "Querdenker"-Demos regelmäßig notwendige physische Abstände nicht eingehalten, dabei selten Masken getragen und oft unsägliche Vergleiche angestellt werden (einerseits des überarbeiteten Infektionsschutzgesetzes mit dem Ermächtigungsgesetz der Nazis, andererseits einzelner Protagonisten mit Menschen aus dem Widerstand im Dritten Reich), entzieht es sich meinem Verständnis, wie man sich damit gemein machen kann.

Im Übrigen: Auch ich habe mich lange gefragt, "cui Bono"? Inzwischen habe ich die entgültige Antwort gefunden: Bono ist der Sänger von U2.

Mischa Pitskhelauri, 09.12.20 22:12

@Tobias Kühl
"Ein freier Bürger (im Gegensatz zum unwilligen Untertan) sollte in der Lage sein, die Notwendigkeit einer Reaktion auf die Bedrohung durch das Virus zu erkennen."
Lieber Herr Kühl, ein freier Bürger soll zur Einsicht (egal welcher Art) selbständig gelangen, und nicht dazu gezwungen, oder überzeugt werden. Die eigenständige Einsicht kann aber nur durch Zusammentreffen zweier Erkenntniselemente entstehen: durch die Wahrnehmung und den Begriff. Es fehlen jedoch, für aktuell verbreitete Begriffe wie "Pandemie", "Hohe Mortalität am CoVID-19" immer noch die entsprechende (nicht dafürgehaltene, sondern echte) Wahrnehmungsgegenstücke. Mit freundlichen Grüßen. Mischa Pitskhelauri

Mischa Pitskhelauri, 09.12.20 23:12

@Kullak-Ublick

Lieber Herr Kullak-Ublick,
Hochachtung für Ihre Bereitschaft sich für so vielen Gegenstimmen entgegen zu stellen! Mit Sicherheit sind diese nicht ein Nichts für Sie. Ich kann mir auch vorstellen, dass Sie einige Nächte in innerer Unruhe verbracht haben, solchen unverantwortlich sich verhaltenden Menschen wegen, wie z.B. ich es bin. Ich war auf dem September-Demo in Berlin und hatte in der Hand ein Plakat von Goethe und Schiller hochgehalten. Das Ideal der Wahrheit und Freiheit durch Erkenntnis und Bildung, sollten die beiden Menschheitsvertreter symbolisieren. Aber ich habe gesehen dass, auf den Straßen auch Menschen mit anderen Motiven waren. Hätte ich diese jagen müssen, oder deren wegen selber nicht gehen?

Ich bin überzeugt dass Sie, lieber Herr Kullak-Ublick die Anthroposophie als Grundlage der Waldorfpädagogik ansehen. Und es mag noch so großer Kluft zwischen dem Robert Koch und Rudolf Steiner geben, dennoch hatten beide eine klare Stellung zur den Lebensgrundlagen genommen: Virus oder Christus. Der "Vater" von Virus ist gegen Christus. Insofern möchte ich betonen das die Waldorfpädagogik nicht die Beliebigkeit, oder "das" und "jenes auch", sondern nur die Vorbereitung der Seele zur Christus-Erkenntnis sein kann. Alles andere kann fairerweise, nur eine Pädagogik mit Elementen der Waldorferziehung sein.
Mit freundlichen Grüßen. Mischa Pitskhelauri

Tobias Kühl, Berlin, 11.12.20 17:12

@Mischa Pitskhelauri
Lieber Herr Pitskhelauri,
"ein freier Bürger soll zur Einsicht (egal welcher Art) selbständig gelangen, und nicht dazu gezwungen, oder überzeugt werden", schreiben Sie.
Dem kann ich nur bedingt zustimmen. Der Zwang ist natürlich auszuschließen - aber im argumentativen Diskurs gute Argumente anzuerkennen und dadurch die eigene Überzeugung zu überarbeiten halte ich für eine wichtige Kulturtechnik. Falls Sie hier ein Überreden per Wortgewalt meinten, bin ich allerdings wieder bei Ihnen.

Weiter schreiben Sie: "Die eigenständige Einsicht kann aber nur durch Zusammentreffen zweier Erkenntniselemente entstehen: durch die Wahrnehmung und den Begriff. Es fehlen jedoch, für aktuell verbreitete Begriffe wie 'Pandemie', 'Hohe Mortalität am CoVID-19' immer noch die entsprechende (nicht dafürgehaltene, sondern echte) Wahrnehmungsgegenstücke."
Prinzipiell gerne ich Ihnen Recht, dass die Wahrnehmung ein essentieller Teil der Erkenntnis ist.
Hier begegnen wir aber einen Problem, das auch mich in meinem Osteopathie-Studium geplagt hat. Ich glaube, dass hier ein Denkfehler im aristotelischen Sinn vorliegt: eine Vermischung von den Gesetzen der Allgemeinheit mit denen, die wir aus dem Sozial-Konkreten kennen. So ist für ein Verständnis der Gesetze der Großen Zahl die Wahrnehmung des Konkreten nicht nur wertlos (hier im erkenntnistheoretischen Zusammenhang gemeint, nicht im moralischen), sondern sogar potentiell irreführend. Für den hier besprochenen Bereich muss daher die Wahrnehmung des Einzelnen durch die (zB von Wissenschaftlern, gerne aber auch von sog. Bürger-Wissenschaftlern) erhobenen Zahlen* ersetzt werden. Um einen konkreteren Begriff von 'Pandemie' oder 'Exzess-Mortalität durch CoVID-19' zu erhalten müsste eine solcherart freie Bürgerin ja mindestens Hunderttausende an Mitbürgern kennen und deren Gesundheitsstatus mitverfolgen (oder eher Millionen) - das halte ich für eine zumindest derzeit unübersteigbare Hürde.

Mit freundlichem Gruß
Tobias Kühl

*) Diese Zahlen müssen dann nach den in ihnen selbst liegenden Gesetzen (also mit kühler Logik) behandelt werden, um in geeigneter Weise die genannten Begriffe illustrieren zu können.

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