Hüllenbildung

Henning Kullak-Ublick

Vor einem Jahr sprang sie selbst, kaum dass ihr Name aufgerufen wurde, so schnell auf die Bühne, dass der ganze Saal zu schmunzeln begann, aber davon merkte sie vor lauter »arbeitsam und lernbegierig sein« natürlich nichts. Nicht jeder Erstklässler kann sich so leichtfüßig aus dem Schutz der Eltern lösen, denn der Schritt über die Schwelle von der frühen Kindheit an diesen Ort des Lernens und Arbeitens ist einer der ganz großen im Leben eines Menschen.

Es ist immer wieder faszinierend, die Entwicklung der Kinder durch die ersten Schuljahre, später durch die Pubertät und bis zum Ende der Schulzeit zu begleiten und sich dabei ab und zu an diesen ersten Augenblick zu erinnern. Durch all die großen und kleinen, manchmal urplötzlich auftretenden, manchmal sich erst allmählich zeigenden Verwandlungen hindurch, mit denen sich ihr Wesen bis in ihre äußere Erscheinung und Wirksamkeit vorarbeitet, bleibt der Gang von den Eltern zum Klassenlehrer und den neuen Klassenkameraden wie eine Signatur des Weges, den sie von jetzt an gehen werden, in der Erinnerung zurück: Der eine schreitet langsam und bedächtig in Richtung Bühne, die andere stapft und stürmt mit kräftigen Schritten voran, der dritte macht sich fast unsichtbar und die vierte fängt schon an zu plappern, bevor sie auf der Bühne ist. Und während jedes Kind diesen Weg auf seine ganz eigene und unerschöpflich erstaunliche Weise geht, bilden die Kinder von nun an zusammen wieder ein Ganzes, eine Klassengemeinschaft, die ihnen die Geborgenheit, den Schutz und die Hülle geben kann, die sie brauchen, um aneinander, miteinander und jeder für sich wachsen zu können.

Eine wichtige Voraussetzung dafür ist das Vertrauen, das ihre Eltern gegenüber den Menschen aufbringen, die von jetzt an sehr viel Zeit mit ihren Kindern verbringen werden und sie in einem ganz anderen Kontext als dem Elternhaus erleben. Vertrauen kann man nicht einfordern, aber man kann es schenken. Kinder haben ein sehr feines Gespür dafür, wie Erwachsene übereinander denken. Man muss nicht alles mögen, was der Klassenlehrer tut, aber je jünger ein Kind ist, desto mehr braucht es diese Geborgenheit des gegenseitigen Vertrauens der Erwachsenen, mit denen es die meiste Zeit des Tages verbringt, denn woran soll es sich sonst orientieren?

Manche Tiere müssen sich im Laufe ihrer Entwicklung häuten, um wachsen zu können. Das muss sein, macht sie aber vorübergehend schutzlos. Auch manche Kinder fühlen sich beim Eintritt in die Schule ein bisschen wund und schutzlos. Rhythmus, Liebe, Humor, gute Geschichten, Freude am eigenen Können, mit den Klassenkameraden geteilte Freuden, das Gefühl, gesehen zu werden und das sichere Wissen, nicht nur die besten Eltern, sondern auch die besten Lehrer auf der Welt zu haben, schaffen zusammen eine neue, stärkere Hülle. Und in einem Jahr feiern sie mit den neuen Kleinen wieder den Geburtstag der Schule.

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung – Haager Kreis sowie Koordinator von Waldorf100 und Autor des Buches »Jedes Kind ein Könner. Fragen und Antworten an die Waldorfpädagogik«.