Waldorf ist keine Konserve

Henning Kullak-Ublick

Wissen Sie, wie Wein entsteht? Wenn die Trauben geerntet, entkernt und zerquetscht worden sind, vermehren sich in dem süßen Saft zahllose Hefepilze, die sich während der Reifung auf den Trauben angesiedelt haben. Diese Pilze bewirken eine stürmische Gärung, an deren Ende der so gebildete Alkohol die Pilze abtötet, denen er seine Existenz verdankt. Das wiederum bedeutet das Ende der Gärung: Die Konservierung setzt ein.

In den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts vollzog sich eine vergleichbar stürmische Entwicklung mit den Waldorfschulen. Auf einmal gärte es überall in Deutschland und während sich die Friedens- und Ökobewegung ausbreiteten, entstanden allerorten Schulgründungsinitiativen, die bis heute 215 Waldorfschulen mit 80.000 Schülern hervorgebracht haben: Diese Pädagogik trifft offensichtlich einen Nerv der Zeit. Allerdings führte ihre rasante Ausbreitung paradoxerweise dazu, dass eine wachsende Zahl der heute über 7.000 Waldorflehrer immer weniger über die Pädagogik wissen, in deren Namen sie tätig sind.

Natürlich gibt es unter ihnen viele wunderbare Lehrerinnen und Lehrer, aber die Waldorfschulen verdanken ihre Ausbreitung ihrer in der Anthroposophie wurzelnden Pädagogik. Diese ist kein abgeschlossenes System, sondern ein Entwicklungsweg und bedarf der individuellen Aufmerksamkeitsschulung aller Lehrer. Sonst besteht sofort die Gefahr, überlieferte Formen mit den Ideen zu verwechseln, aus denen sie hervorgegangen sind: Die Gärung wird Konserve. Eine Schulform, die erklärtermaßen auf starre Curricula oder eine direktoriale Schulführung verzichten will, braucht starke ideelle Bezugpunkte, um nicht bis zur Beliebigkeit zu verschwimmen. Viele Probleme, mit denen sich Waldorfschulen heute auseinandersetzen müssen, haben hier ihre Ursache.

Aus diesem Grund heißt es in dem gemeinsamen Leitbild der deutschen Waldorfschulen: »Für die Lehrer gibt es eine spezielle Ausbildung in Waldorfpädagogik. … Eine permanente Fortbildung ist Teil der pädagogischen Arbeit.« Alle Lehrer, die bisher ohne Waldorfausbildung unterrichten, können berufsbegleitende Kurse auch »on the job« besuchen.

Die Waldorfschulen sind eine »Graswurzelbewegung«: Jede Schule steht verantwortlich für die gemeinsame Idee unserer am werdenden Menschen orientierten Pädagogik. Das bringt die Verpflichtung mit sich, allen pädagogisch Handelnden den Besuch der entsprechenden Fortbildungen zu ermöglichen und im Einzelfall auch einzufordern.

Im Gegensatz zur alkoholischen Gärung sind wir zur Konserve nicht verdammt. Bilden wir uns!

Henning Kullak-Ublick, Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, seit 1984 Klassenlehrer in Flensburg, Aktion mündige Schule.