Wie kann man Waldorfpädagogik, diesen mitteleuropäischen christlichen Kulturimpuls, in Indien unterrichten – dort, wo die Spiritualität aus einem Konglomerat so vieler Religionen jede Aktivität des täglichen Lebens durchdringt? Für Aban Bana, Eurythmistin, ehemalige Waldorflehrerin und heute Präsidentin der »Anthroposophical Society In India«, ist das kein Problem: »Rudolf Steiner«, so sagt sie, »hat der Welt einen neuen Sinn gegeben. Seine Anthroposophie hat das Leben vieler Menschen zum Besseren ver-ändert«.
In Indien, dem Land der Rishis und Munis, wo Spiritualität und philosophische Diskussionen zum Leben gehören, sind alle Bereiche der anthroposophischen Tätigkeit etabliert, das Interesse wächst, vor allem in den südlichen Bundesstaaten des Landes. »Indien«, so Bana, »war schon immer offen für neue Ideen geistiger Natur. Bei uns gibt es den gängigen Satz: ›A no bhadrah kratavo yantu vishvatah!‹ – ›Edle Gedanken aus jedweder Richtung sind willkommen!‹«
Die im Aufbau befindliche Inodai Waldorf School wurde 2010 im Stadtteil Andheri-West von ehema-ligen Lehrern der großen Tridha Rudolf Steiner School in Mumbai und den Eltern von sechs Kindern gegründet. Sie besteht im dritten Jahr mit einer großen Kindergartengruppe und seit Sommer 2013 mit den ersten drei Klassen. Insgesamt werden über sechzig Kinder betreut und unterrichtet. Die Schule befindet sich im ersten Stockwerk eines ehemaligen Schulgebäudes, das auch noch von einer Arzneimittel-Firma genutzt wird, an einer sehr befahrenen und lauten Straße. Ein kleiner Hinterhof dient als Pausen- und Spielplatz. Die räumlichen Bedingungen sind sehr beengt.
Vor Unterrichtsbeginn treffen sich alle Pädagogen zum »morning-circle«. Es erklingen Lieder, passend zu den zahlreichen Festen der Religionen Indiens, der Wochenspruch wird gelesen, mit intensiven Atemübungen das »A-O-M« intoniert. Zum Abschluss reichen sich alle lange im Kreis die Hände ehe sie zu ihren Kindern gehen.
Atemübungen nach dem Morgenspruch
In der Klasse erzähle ich den Kindern, dass mit jedem beginnenden Tag, mit dem Morgengesang der Vögel auch die Morgensprüche der Waldorfschulen von Kontinent zu Kontinent ihren Weg um den Globus nehmen. Dann sitzen die Lehrerin und die Kinder auf einem Teppich im Kreis: Kerze und Weihrauch, den jeder mit den Händen zu sich und über den Kopf holt, Atemübungen, auch hier das dreifache »A-O-M« gehören zum täglichen Ritual. Die Kinder der 3. Klasse, die gerade die hinduistische Schöpfungsgeschichte als Epochenthema haben, wissen, dass dies »Brahma« (»Urklang«) bedeutet. Aus dessen Vibrationen entstand nach hinduistischem Verständnis das Universum und es symbolisiert die Dreiheit von Brahma, Vishnu und Shiva. Sie wissen wohl nicht, dass es korrespondiert mit den drei Bewusstseinszuständen des Wachens, des Träumens und der tiefsten Versenkung. Aber in einer nachfolgenden Übung praktizieren sie einen solchen Dreischritt: Mit einem Ballwurf beginnt Nandini, die Lehrerin: »Brahma created the heaven.« Das Kind neben ihr wiederholt mit seinem Ballwurf den Satz und bildet einen nächsten: »Brahma created …«! So werden die Sätze immer länger. In der nächsten Runde werfen die Kinder dann mit dem Ball nur noch die Hauptwörter in immer längeren zu erinnernden Wortketten: heaven, earth, sky, ocean … Und in der letzten Runde gilt jeder Ballwurf der Buchstabierung der Wörter. Die Übung – ein Dreischritt zu immer mehr Wachheit und Abstraktion, vom Ganzen zum Detail – das ist Methodik der Waldorfschule.
Im Arbeitsteil schreiben und malen die Kinder zur Schöpfungsgeschichte, die den schrittweisen Aufbau der Welt und der Naturreiche gar nicht so anders schildert als die Genesis. Im Fachunterricht kommt die Sprachlehrerin für Hindi. Die Buchstaben in der Devanagiri-Schrift lernen sie mit Bildern, aus denen die Buchstaben herauszulesen sind. Im Hauptunterricht wird Englisch gesprochen und geschrieben. Die Kinder in Mumbai wechseln meist wenig bewusst zwischen drei Sprachen hin und her, von Hindi zu Marathi und zu Englisch. Und das kann auch in einem Satz geschehen.
In der ersten Klasse rechnet die Lehrerin Poorna. Sie teilt mit den Kindern Nüsse in verschiedene Mengen auf, um die Addition einzuführen. Häufig arbeiten die Kinder sitzend am Boden. Dort wird in der Pause auch das Obst zum »fruit break« eingenommen. Ich wundere mich in diesen Wochen immer wieder, wie konzentriert und entspannt die Kinder und ihre Lehrerinnen die Schulzeit verbringen. Die Umstände sind alles andere als leicht. Fenster und Türen kann man nicht schließen, weil die Hitze sonst erdrückend wäre. Ständig kreisen Ventilatoren an der Decke. Der Verkehrslärm ebbt nie ab: Indische Auto-, Motorrikscha- oder Motorradfahrer hupen ohne Unterbrechung. Auf dem schmalen Verandaflur vor den Türen laufen die Kindergartenkinder herum. Manchmal kommen sie in die Klassenzimmer. Niemand stört sich daran.
Indische Kinder sind das Leben in großen Familien gewöhnt. Ich habe kaum individuell-egoistische Verhaltensweisen erleben können. Nie wurde eine Lehrerin laut gegen ein Kind.
Es gibt nicht nur Christi Geburt zu feiern
Das Leben in dieser chaotischen Stadt Mumbai ist hart. Tag und Nacht eilen die Menschen in gelassener Hektik von der Arbeit zu ihren Behausungen. Das sind Luxusvillen mit Meeresblick, Hochhäuser mit hunderten Apartments oder Staub und Pflastersteine unter den Brücken, wo diejenigen »hausen«, die von der Hand in den Mund, vom Betteln, von Minigeschäften, von kleinen Werkstätten oder vom »Recyceln« leben. Der Glanz und Reichtum der Dollar-Milliardäre, der Bollywood-Stars und die Armut der Zugewanderten liegen Tür an Tür. In nächster Nachbarschaft und gewöhnlich in gegenseitiger Toleranz leben auch die vielen Religionen: Hindus, Moslems, Jainas, Parsen, Sikhs, Buddhisten, Juden und Christen. Ihre Feste feiern auch die Waldorfkinder in der Schule. Und es sind viele! So zum Beispiel Krishnas Geburtstag im August und die Geburt Jesu im Dezember. Die Tempel der Hindus, Jainas und Sikhs sind immer offen, die Rituale des Opferns, Betens und der zahllosen kleinen magischen Handlungen sind im alltäglichen Leben stets gegenwärtig, auch in den »aufgeklärten« Familien der Mittelschicht, die aus Unzufriedenheit mit dem staatlichen Drillsystem ihre Kinder auf die Waldorfschule schicken.
An einem Elternabend und in meinen Kursen konnte ich die Begeisterung dieser Eltern für die Idee und das praktische Leben ihrer Schule erleben. So liefert abwechselnd jeden Tag eine Familie das Mittagessen für alle Kindergarten- und Schulkinder und auch für die Lehrer und Helfer. Sind die Lebensumstände der Lehrer angesichts der hohen Mieten, des geringen Gehaltes, der Verkehrsprobleme und der räumlichen Enge an der Inodai-Schule alles andere als einfach, so genießen sie doch eine Hilfe, die europäischen Waldorflehrern unbekannt ist. Die Helferinnen aus der lokalen und armen Bevölkerungsschicht nehmen ihnen still und bescheiden zahlreiche Arbeiten ab: Der süße 10-Uhr-Milchtee steht plötzlich neben der unterrichtenden Lehrerin, ebenso die Tabletts mit den Pausenmahlzeiten. Die Helferinnen räumen vor und nach dem Unterricht oder Kindergarten auf, putzen, richten das Essen, waschen ab und haben stets einen Blick oder eine gute Hand für die Kinder.
Zahlreiche Waldorfinitiativen entstehen in Indien. Im Kleinen zeigt die Inodai-Schule, dass Waldorf eine Zukunftsvision für dieses Land sein kann: Religionen, Sprachen, soziale Gegensätze und der Impuls zu individueller Entwicklung und Verantwortung wirken hier friedlich und harmonisch zusammen.
Zum Autor: Thomas Wildgruber war von 1979 bis 2011 Klassenlehrer und Kunstlehrer für die Klassen 1 bis 8 und gibt weltweit Fortbildungen in Methodik und Kunstdidaktik.
Links: www.kunst-didaktik.de | www.inodai.org.in