Zuerst tanzt Gelb auf feuchtem Papier, breitet sich aus wie die Morgensonne. Blau gesellt sich hinzu, mutig, und wo sie sich treffen, erwacht Grün – ein stilles Abkommen zwischen Farben. Sie weben gemeinsam ein zartes Tuch aus Licht und Schatten, flüstern Geschichten von entstehender Kunst. Im Büro von Inke Kruse, der Geschäftsführerin von Stockmar, fallen mir zuerst zwei Bilder auf. «Von Béatrice Cron, Professorin für Malerei im Kontext von Therapie und Pädagogik an der Alanus-Hochschule», erläutert Kruse. Die Bilder inspirieren Inke Kruse jeden Tag, doch das Herzstück von Stockmar bleibt die handwerkliche Farbenherstellung.
Seit sechs Jahren verantwortet Kruse Stockmars Geschäfte. Im letzten Jahr feierte sie mit ihren Kolleg:innen das einhundertste Firmenjubiläum. Kruse hat eine besondere Definition des Unternehmens, das sie führt: «Ich sehe Stockmar als ein Wesen, zu dem ich in Beziehung stehe.» Anlässlich des Jubiläums wurde geprüft, wo das Unternehmen steht und welche Ziele man sich gesetzt hat. Aus den Überlegungen entstanden Stockmars Unternehmensziele für das Jahr 2030. An ihren Definitionen wirkten Mitarbeitende und Berater:innen mit. «Inmitten aller Veränderungen und Innovationen bemühe ich mich, die Kontinuität zu wahren, die unserem Unternehmen innewohnt», so Inke Kruse.
1921 siedelte Hans Stockmar mit seiner Familie aus Neuseeland über nach Kaltenkirchen in Schleswig-Holstein. Dort, wo die Nachkriegsinflation in Millionenschritten die Preise täglich in die Höhe trieb, gründete der einstige Schauspieler, Gärtner und Imker 1922 eine Wachsschmelze zur Produktion von Wachstrennplatten für lokale Imker. 1930 erweiterte er sein Geschäft um Kerzen. In den ersten zehn Jahren seiner Unternehmertätigkeit sicherte er das Überleben seiner Familie in den Wintermonaten, indem er als Steward auf Aussiedlerschiffen arbeitete.
1939 entfesselte die Einführung von Knetwachs in Stockmars Geschichte eine Dynamik, die selbst den Wirren des Zweiten Weltkriegs standhielt – der Übergang von reinen Wachsprodukten hin zu Produkten für den künstlerischen Bedarf.
1947 trat Sohn Anselm in das Unternehmen ein. Inspiriert von seinem Bruder Heimdal, der Lehrer an der Waldorfschule Hamburg-Wandsbek war, entwickelte Stockmar im Jahr 1952 Wachsmalblöcke und -stifte in Zusammenarbeit mit Waldorfpädagog:innen. Es folgten farbige Wachsfolien und Batikwachs. In den 1960er Jahren kamen auf Anregung der Waldorfschulen transparente Aquarellfarben hinzu und in den 1980er Jahren entwickelte Stockmar Pflanzenmalfarben. Damals wie heute orientiert sich Stockmar an den strengen Lebensmittelstandards, obwohl eigentlicht «nur» die Schadstoffnormen eingehalten werden müssten.
1974 markierte die Umwandlung des Stockmar-Kapitals in gemeinnütziges Eigentum einen Wandel in der Unternehmensführung, der über die Person Hans Stockmars hinausgeht. Heute ist Stockmar mit Vertriebsstellen in über 60 Ländern präsent.
Inke Kruse führt mich zur Fertigungshalle, der sogenannten «Schmelze». Der Weg führt durch eine Lagerhalle mit Halb- und Fertigwaren und einem Zweijahresvorrat an Rohstoffen, wie dem Bienenwachs. «Mit dem Wachs kommt die Wärme in unsere Produkte.» In einer Wanne schwimmen Wachsröllchen in kaltem Wasser. «Sind Sie vertraut mit Klebwachs?» fragt Kruse. «Das ist das älteste Stockmar-Produkt, das wir noch herstellen. Damit kann man zum Beispiel Kerzen auf glatten Oberflächen aufstellen.»
Kruse öffnet die Tür zur Schmelze und sogleich umgeben uns ruhige, gleichmäßige Maschinengeräusche, die an einen lebendigen Organismus in Balance erinnern. Mein Blick streift über Apparate, Kessel und Regale. Im Raum liegt der unverwechselbare Duft von Bienenwachs. In großen Kesseln werden unter ständigem Rühren blaue, gelbe, rote und grüne Wachsmischungen auf 85 Grad erhitzt. Jan Pohlmann gießt konzentriert eine leuchtend rote Flüssigkeit aus einem Eimer in präzise geformte Metallformen, die das Wachs in kleinen Zellen einfangen. Dort erstarrt es innerhalb von 40 Minuten. Währenddessen wechselt Pohlmann zur Anlage für die heutige Charge grüner Blöcke. Fertig ausgehärtet werden die Wachsblöcke von Stößeln aus ihren Formen gehoben. Nebenan produziert Martin Borchardt blaue Wachsmalblöcke mit einer moderneren Spezialmaschine. «Wir haben 32 Farben im Sortiment», erklärt Kruse, «und jedes Pigment hat seine typischen Eigenschaften, die es bei der Produktion zu beachten gilt», ergänzt Pohlmann. «Jeden dieser Wachsmalblöcke akzeptiere ich nur, wenn ich denke: Mit diesem würde ich auch gerne malen.»
Auf der anderen Seite der Fertigungshalle entnehmen Anja Bumann und Markus Schütz einer Maschine orangefarbene Wachsmalstifte, die aus einer Metallplatte mit vielen runden Öffnungen herausragen. «So sehen Sie die weltweite Stockmar-Wachsmalblock- und Wachsmalstift-Produktion in diesem Raum», sagt Inke Kruse und leitet mich zum Packraum. «Hier wird organisiert, dass die Produkte, die wir herstellen, in Verpackungen kommen. Wir arbeiten mit Menschen mit Behinderungen, die in Lebens- und Hofgemeinschaften arbeiten, wo wir konfektionieren lassen.»
Bei der Qualitätssicherung und der Bewertung künstlerischer Aspekte der Stockmar-Produkte spielt Teamarbeit eine zentrale Rolle, wie Anne Adelt im Labor verdeutlicht. Sie nähert sich der Arbeit oft intuitiv an, um den Farben den nötigen Entfaltungsspielraum zu gewähren – ein Prozess, der sich in der Praxis bewährt. Ein Schlüsselaspekt ist das Testen der Pigmentwirkung auf Papier, ein entscheidender Schritt für die Rezepturentwicklung, die fortlaufend an die dynamischen europäischen Gesetzgebungen angepasst wird.
In dieser Welt, in der die Farben von Stockmar leuchten, tanzen sie über Grenzen und Generationen hinweg. Sie flüstern von Wärme, Liebe und Licht – einer Sprache, die jeder versteht. Dieses Erbe, das Hans Stockmar vor einem Jahrhundert begründete, lebt fort, getragen von der Hingabe und Leidenschaft des gesamten Teams, das sich dieser Symphonie der Farben verschrieben hat. Die Reise von Stockmar, von den bescheidenen Anfängen in Kaltenkirchen bis in die Kinderzimmer und Ateliers weltweit, ist eine Erzählung von Beständigkeit, Innovation und der Suche nach Schönheit im Einfachen. In den Aquarellen von Béatrice Cron, die Inke Kruse jeden Tag inspirieren, spiegelt sich nicht nur das Licht der Liebe wider, sondern auch das Herz einer Firma, die mehr als Farben formt: sie formt auch Erinnerungen, Träume und vielleicht auch den kreativen Geist der Zukunft.
Ausgabe 04/24
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