Streiten lernen

Viola von Wechmar

Unsere Arbeit umfasst Spielangebote während der Hofpausen, die Betreuung der Mittelstufenbibliothek, Konfliktbearbeitung, die Ausbildung von Streitschlichtern, die Streitprävention, Streitschlichtung und Mobbingbearbeitung, die Begleitung, Beratung und Bearbeitung bei häuslichen, gesundheitlichen und schulischen Problemen, die Beratung und Zusammenarbeit von und mit Lehrer:innen, die Elternberatung und die Kontaktpflege zu außerschulischen Fachstellen und Behörden.

Im Folgenden beschränke ich mich auf ein präventives Angebot zum Thema »Streit«, das es in dieser Form seit 2013 an unserer Schule in der fünften Jahrgangsstufe gibt.

In der Schule »streitkundig« werden!

Mit diesem Angebot sollen die Kinder mit Themen rund um Streit vertraut gemacht werden. Sie sollen Raum erhalten, ihre Erfahrungen und Ängste zu äußern und im Miteinander der Gruppe die gegenseitige Wahrnehmung und die notwendige Unterstützung zu erhalten. Dadurch sollen sie befähigt werden, in Konfliktsituationen anders zu reagieren, rascher Gewalt zu erkennen und lernen einzuschätzen, wann Hilfe notwendig ist. Themen wie z.B. Ausgrenzung Einzelner, verbale und körperliche Auseinandersetzungen oder Konflikte mit anderen Klassen werden thematisiert und bearbeitet. Die »Hürde«, die Schulsozialarbeit für manche Kinder bedeutet, wird im Verlauf des Projekts erfahrungsgemäß schnell abgebaut. Die Klasse wird in vier Kleingruppen mit etwa sieben bis neun Kindern geteilt. So kann ich mich jedem Einzelnen zuwenden, nehme schnell wahr, wenn sich jemand langweilt oder abgelenkt ist; stille Kinder trauen sich in kleinen Gruppen eher, etwas beizutragen, tonangebende Kinder lernen, ohne Zurückweisung sich zurückzunehmen. Jede Woche kommt an zwei verschiedenen Tagen eine der Gruppen zur Arbeitsphase. Bei fünf Themen dauert die Arbeitsphase rund zehn bis zwölf Wochen. Zu Beginn stelle ich die Regeln vor:  – »Auch wenn wir bei jedem Treffen ein Spiel spielen, ist es keine Spielstunde! Wenn ihr Beiträge zum Thema geben möchtet, dann meldet ihr euch. Solange jemand spricht, wird nicht unterbrochen, sondern zugehört.« – »In diesem Raum werden keine Beleidigungen geäußert, weder mit Worten noch mit Gesten oder Mimik.« – »Was wir hier besprechen, bleibt unter uns! Eure Beiträge sollen geschützt sein und ich möchte nicht, dass sie nachher auf dem Pausenhof besprochen werden. Das gilt auch für mich! Wenn ihr mir etwas erzählt, dann werde ich das nicht mit euren Lehrer:innen oder euren Eltern besprechen. Wenn jedoch ein Thema von Bedeutung für sie ist, dann bitte ich euch um Erlaubnis, mit ihnen reden zu dürfen! Könnt ihr dazu ja sagen?« Jede Stunde beginnt mit einem konkurrenzfreien Spiel ohne Körperkontakte, das allen ermöglicht, mitzumachen. Das Spiel ist für den Einstieg ein wichtiges Element, da es eine positive Grundstimmung auslöst und wir gemeinsam eine schöne erste Wahrnehmung von- und mitein­ander haben. Die Kinder sollen sich in ihrer »neuen« Gruppe sicher fühlen.

Welchen Umgang miteinander wünsche ich?

Die Kinder sitzen danach im Halbkreis, eine mobile Tafel ermöglicht meine Bewegung im Raum. Zu Beginn nenne ich das Thema und stelle eine Frage, zum Beispiel: »Welchen Umgang wünscht ihr euch miteinander in der Schule?« Was zum Thema beigetragen wird, kommt in Stichworten an die Tafel. Später lautet meine Frage: »Und wie sieht das Verhalten im Miteinander tatsächlich aus? Wo sind Hürden und Hindernisse? Was, glaubt ihr, wünschen sich eure Eltern oder euer Lehrer oder eure Lehrerin«? Nach jeder Frage gebe ich Zeit für Beiträge, gebe meine Einschätzung dazu oder erkenne Handlungsbedarf und benenne diesen. Alle wichtigen Stichworte kommen wieder an die Tafel. Anschließend gibt es Raum, eigene Erfahrungen und Erlebnisse auszutauschen und wir sortieren das Aufgeschriebene. Nach jeder Stunde mache ich ein Protokoll, das nicht nur meiner Erinnerung, sondern auch als Grundlage der Reflexion meiner Arbeit und als Vorbereitung zum Rückblick mit der Klassenführung und dem Elternabend nach Abschluss der gesamten Gruppenarbeit dient. Die Klassenlehrer:innen und die Eltern erhalten nach Beendigung der Gruppenarbeit lediglich Einblick zum Ablauf, den Themen und wie ich die Klasse als Ganzes erlebe, wo ich Bedarf an Bearbeitung sehe, was gut klappt und wo Stärken liegen.

Welches Verhalten führt zu Streit?

Beim Thema »Welches Verhalten führt zu Streit?« erzählen die Kinder meist von ihren teilweise kränkenden, schmerzhaften Erlebnissen. Darauf einzugehen, bringt auch im Nachhinein Trost, Verständnis, Verzeihen und Entschuldigungen; dadurch erfahren sie im Miteinander Anteilnahme, machen konstruktive Vorschläge oder konkrete Unterstützungsangebote und beziehen mich besonders dann ein, wenn es Vorfälle gab, bei denen Ältere unangemessen mit Jüngeren umgegangen sind. Zudem können wir in dieser Stunde oft vorkommende Konflikte der Klasse erfassen, gemeinsam Lösungen suchen, die dann meist besser umgesetzt werden können. Hinweise auf besondere Streitorte können meine verstärkte Wahrnehmung dahin leiten.

Welche Gefühle habe ich?

Gefühle erkennen, Gefühle benennen – ein wunderbares Thema! Es ist immer wieder erstaunlich, wie viele Gefühle die Kinder kennen. Jetzt dürfen sie alles nennen und alles wird aufgeschrieben! Wenn es nur zögerlich losgeht, frage ich einfach nach ihren Erfahrungen, zum Beispiel, welches Gefühl man hat, wenn man am Wochenende allein ist und sich nicht verabreden kann. Oder ich frage nach Heimweh, Glück, Wut, Angst, Erleichterung, Fröhlichkeit und lasse sie erzählen. In Streitsituationen spielen Gefühle eine große Rolle, oft ist den Streitenden gar nicht bewusst, welche gerade »am Laufen« sind, manchmal werden sie aber auch bewusst aus Angst, Scham, Berechnung oder Unsicherheit versteckt. Wieder sortieren wir die Begriffe. Was passt zusammen? Worin liegt ein Unterschied, z.B. bei Trauer – Traurigkeit, was wurde schon erlebt, in welcher Situation, was hättest du dann gebraucht? Welche der Gefühle sind bei Streit und Auseinandersetzungen auf jeden Fall dabei?

Höre ich zu?

»Was denkt ihr, ist aktives Zuhören?« – alles an die Tafel.Erste Übung: »Gleich werde ich die Türe öffnen, ihr macht alle eure Augen zu und hört nur. Seid ganz still, konzentriert euch auf alle Geräusche und merkt sie euch. Wenn die Sanduhr durchgelaufen ist, sage ich euch Bescheid, dass ihr die Augen wieder öffnen könnt.« Jedes Kind darf dann eine Sache sagen, die es gehört hat und das wird an die Tafel geschrieben, manchmal ist es so viel, dass es eine zweite Runde braucht. Dann in den Austausch gehen, fragen »Warum vermutest du, dass ein Kind die Treppe hoch gelaufen ist?« Bestätigen, dass wir es zwar nicht gesehen haben, dass wir aber aufgrund unserer Alltagserfahrung und Konzentration des Hörens durchaus eine Interpretation wagen können. Zweite Übung: Ein Kind setzt sich zu mir vor den Halbkreis und erzählt mir eine Geschichte, die bedeutsam für es ist. Es kann ein besonderes Erlebnis sein, wie der letzte Geburtstag gefeiert wurde oder etwas aus dem Sportverein. Die Geschichte sollte mindestens zwei Minuten dauern. Das Kind erzählt und ich gähne, zupfe an meinem Pullover, schaue weg, unterbreche, erzähle dann von meinen Erfahrungen zu dem Thema, gähne erneut, zappele mit den Füßen, schaue auf den Boden, wirke leicht genervt. Irgendwann gibt das Kind auf, dann entschuldige ich mich ganz deutlich und frage in die Runde, ob das aktives Zuhören war. Jedes Mal wird mir der Kopf gewaschen und alles, was ich falsch gemacht habe, wird an die Tafel geschrieben. Jetzt versuchen wir, gemeinsam die Kriterien für aktives Zuhören zu finden, schreiben sie auf und als deutliches Signal streiche ich mein fehlerhaftes Zuhören dick durch.

Spreche ich über mich?

Hierbei führe ich die Kinder in die Möglichkeit ein, anders mit Streitsituationen umzugehen, um einen Konflikt nicht zu verschärfen. Wenn uns zum Beispiel bei Anderen Verhaltensweisen auffallen, die uns stören oder beeinträchtigen, teilen wir unseren Ärger oft dadurch mit, dass wir dem Gegenüber die Verantwortung für die Störung zuweisen: Wir äußern »Du-Botschaften«. Das führt meist zu Streit, der auch mal heftig eskalieren kann. Daher ist es ratsam, den Ärger auf eine andere Art zu formulieren, nämlich als Aussage über die eigene Person. Ich-Botschaften enthalten keine negativen Urteile, sie vermitteln den Ärger, den man tatsächlich empfindet, den man benennen darf. »Beginnt im Streitgespräch immer mit ›Ich‹, das ist ein wichtiges Werkzeug, um Konflikte zu lösen.« Die Kinder sollen sich Beispiele ausdenken und diese in der Stunde ausprobieren. »Streitkundig werden« verhindert keinen Streit! Die Gruppenarbeit eröffnet den Kindern aber einen Weg in Richtung Streitkultur, die ermöglicht, ohne Gesichtsverlust und ohne gewalttätige Auseinandersetzungen durch einen Konflikt oder eine Meinungsverschiedenheit zu kommen.

Zur Autorin: Viola von Wechmar ist Diplom-Sozialpädagogin und Schüler:innenmediatorin an der Freien Waldorfschule Kassel