An einem Samstag Anfang Dezember 2013 marschierten im Schatten des Württembergischen Kunstvereins 50 Schüler und Aktivisten als »testudo solaris« mit selbst gebauten Solarpaneelen in den Stuttgarter Weihnachtsmarkt. »Testudo«, lateinisch für Schildkröte, war in der Antike eine erfolgreiche Formation des römischen Heeres. Dabei sicherten metallene Schilde die Soldaten nach vorne, nach oben und zu allen Seiten hin ab. Pablo nutzte die Schlachtenreihe an diesem trüben Vormittag, um »Kunststrom« zu produzieren. Mit einem Megaphon in der Hand dirigierte der Aktionskünstler seine Truppe durch das Gewühl der Marktbesucher und kassierte mal verärgerte, mal erstaunte Kommentare. Der während der Aktion produzierte Strom wurde auf kleinen Akkus gespeichert und mittels mehrerer Autobatterien gesammelt, die ein Mitarbeiter der Firma »Performance Electrics« auf einem Leiterwagen hinter den jungen Leuten her zog.
Dutzende Schüler hatten auf mehreren Workshops an Stuttgarter Gymnasien in den Wochen vorher die leichten Paneele mit der aufgebügelten Photovoltaik-Folie unter Pablos Anleitung hergestellt. Jetzt standen die Solarexperten als Aktionskünstler im Rampenlicht der Fotografen, die die Performance begleiteten. Eine Aufsehen erregende Begegnung von Wissenschaft, Kunst und Mythos.
Kunst aus der Steckdose
Pablo gründete vor zwei Jahren die gemeinnützige Performance Electrics GmbH als Stromanbieter. Im Gegensatz zu herkömmlichen Energieunternehmen wird hier der Strom nicht industriell und standardisiert erzeugt. Vielmehr entsteht Strom durch künstlerische Prozesse und Installationen – etwa durch die acht Meter hohen Windräder aus recycelten Straßenleitpfosten und Verkehrsschildern. Da Pablo seinen Strom über die sogenannte Power Station ins öffentliche Netz einspeist, kann er von dort bezogen werden. Zu seinen Kunst-Strom-Abnehmern gehören öffentliche Museen und Sammlungen. Aber auch in Privathaushalten kommt die Kunst jetzt aus der Steckdose. Ein irritierendes Verfahren, das nicht nur funktioniert, sondern auch das Denken in Bewegung bringt. Bereits 2008 strömte Kunststrom, als der Stromrebell an diversen Leuchtreklametafeln in der Stuttgarter Innenstadt Solarmodule montierte. Gespeist von der strahlenden Werbung sorgten die »Schmarotzer« dafür, Licht zu recyceln! Nebenbei machte diese Aktion aus manchem Ladenbesitzer einen »Kunstvermittler«, wie Pablo im Interview schmunzelnd bemerkt.
Pablo Wendel, geboren 1980, ist fernab der Metropolen in Tieringen auf der Schwäbischen Alb behütet groß geworden. Zum Abschluss seiner Schulzeit an der Balinger Waldorfschule zeigte seine zwei Meter hohe Steinstele, welches künstlerische Potenzial in ihm steckt. Während seiner Steinmetzlehre gehörte die monatelange Arbeit an der wieder aufgebauten Dresdner Frauenkirche zu seinen stärksten Erfahrungen. Im Laufe seines Kunststudiums an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart 2002 bis 2009 mit dem Schwerpunkt Bildhauerei hatte er für ein Semester die Möglichkeit, an der Kunstakademie im chinesischen Hangzhou zu studieren.
Eine Neugeburt
Während dieser Zeit sorgte er durch einen öffentlichen Sprung in die offene Kanalisation der Millionenstadt für großes Befremden. »First Mud«, Urschlamm, hat er seine von einem französischen Fotografen dokumentierte Aktion später genannt. Hinter dem ungewöhnlichen Manöver verbarg sich eine tiefe Sehnsucht: »Mein Wunsch, mich mit dem Land zu identifizieren und ›back to the earth‹ zu kommen«, wie Pablo sagt. Damals begriff er die ganze Stadt mit ihrem extremen Gefälle zwischen Arm und Reich als sein Atelier. Er fuhr die »urbane Prärie« wochenlang mit einem gekauften Fahrrad ab und machte Wahrnehmungsübungen mit dem ganzen Körper. Dabei wurden ihm zum ersten Mal die Auswirkungen der globalisierten Welt bewusst. Er erlebte die extreme Tendenz zur Isolation des Einzelnen als Obdachloser oder bewunderter Ausländer, die ständige Bewertung nach Rang und Status schmerzhaft.
Den Sprung in die Kloake bewertete er im Rückblick so: »Die Erfahrung von Kopf bis Fuß mit Fäkalien, Schlamm und Abfall bedeckt zu sein, war für mich sehr prägend. Beim Versuch, zur Hochschule zurückzukommen, wurde mir die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel untersagt. Somit musste ich einen vier bis fünf Stunden langen Heimweg antreten, bei dem es zu hochinteressanten Begegnungen und Reaktionen kam.«
Der Künstler wird zur lebenden Skulptur
Die Erfahrung, selbst zur Skulptur werden zu können, setzte er wenige Wochen später fort. In monatelanger Vorbereitung kopierte er mit einem selbst angefertigten Kostüm einen der Infanteriesoldaten der weltberühmten Terracotta-Armee in Xi’an. In einem unbewachten Moment stellte er sich auf einen mitgebrachten Tonsockel in die letzte Reihe der lebensgroßen Krieger im Museum, deren Formationen über 2.000 Jahre alt sind. Etwa fünfzehn Minuten später wurde er von der chinesischen Polizei entdeckt und abgeführt, ohne dabei seine Kriegerpose aufzugeben. Auf seinen Mut angesprochen wiegelt der 33-Jährige heute ab: »Ich sterbe 1.000 Tode vor jedem Projekt«.
Der Bericht über den frechen schwäbischen Studenten schaffte es damals bis in die »Tagesthemen«. Was aber einfach und scherzhaft aussieht, bedurfte monatelanger Vorarbeit mit einem bis zu achtköpfigen Team. Dabei musste äußerst konspirativ vorgegangen werden, damit der Künstler keinen seiner Mitarbeiter in Gefahr brachte. Schließlich hätte die Arbeit von den Behörden als schwere Straftat eingestuft werden können. Nach langen Verhören wurde damals nur eine Verwarnung ausgesprochen. Sein China-Aufenthalt im Rahmen des Baden-Württemberg-Stipendiums war beendet. Überraschend war, dass Wendel binnen kurzem in China als Medienstar herumgereicht wurde.
Die Behörden verstanden es, das Interesse eines europäischen Künstlers »für die Gründung ihres bis heute bestehenden Imperiums in ein positives Ereignis umzumünzen«, wie der Kurator des Kunstmuseums Bern, Daniel Spanke schrieb, als er Wendels Kunstwerk »Terrakotta-Warrior« als Video unter den Altmeistern der Sammlung platzierte. Pablos Denken hat viele Einflüsse und Erfahrungen integriert – auch die Idee des erweiterten Kunstbegriffs von Joseph Beuys aus den 1970er Jahren. Das künstlerische Tun findet nicht im Elfenbeinturm statt, sondern mitten in den Kraftfeldern der urbanen Gegenwart. Ihren Neurosen, Raffinessen und Abgründen setzt sich der Künstler in immer neuen Anläufen aus. Seine Leitfrage, sagt die Kuratorin Susanne Jakob, lautet: »Was passiert, wenn …?«
Seine Installationen und Aktionen entspringen dem Untergrund einer furchtlosen Neugier, die Realität verstehen und hinterfragen zu wollen. Sie sind in ihrem subversiven Charakter auf Veränderung angelegt und damit immer auch politisch. Trotz seines jungen Alters ist Pablo seit Jahren als Dozent tätig – in Berlin, Stuttgart oder São Paulo. Lehren heißt nach Heraklit, ein Feuer zu entzünden, nicht einen leeren Eimer zu füllen.
Mit seinen zündenden Ideen ist Pablo Wendel durchaus ein Grieche. Das Wendelsche Denken hat seine Verwandtschaft mit dem Staunen behalten.