Die sogenannte Temperamentenlehre Rudolf Steiners wird zwar an den Waldorflehrerseminaren und -hochschulen gelehrt, findet aber im Unterricht der Waldorfschulen immer weniger praktische Anwendung. Insofern kann man es begrüßen, dass Erziehungswissenschaftler diese »spätantike hippokratische« Persönlichkeitstypologie kritisch unter die Lupe nehmen und Waldorflehrern wieder ins Stammbuch schreiben, was eigentlich alles zu ihren pädagogischen Essentials gehört. Zwei erziehungswissenschaftliche Positionen, wie man mit einer als »empirisch unhaltbar« geltenden Lehre umgehen kann, seien im Folgenden kurz vorgestellt.
Einer der kritischen Erziehungswissenschaftler ist Heiner Ullrich, Professor an der Universität Mainz. Er interpretiert die Ausführungen Steiners zu den Temperamenten als »psychophysische Totaltypologie«, von der sich »die moderne Wissenschaft« schon längst verabschiedet habe, weil sie nur »empirisch-quantitative Erkenntnisformen« akzeptiere.
Ullrich hat im Prinzip Recht: Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, Waldorfpädagogik und Anthroposophie empirisch-quantitativ »abzubilden«. Wie will man einen bio-physischen, seelisch-geistigen, altersspezifischen, schließlich karmisch, das heißt durch mehrere Erdenleben hindurch bedingten, komplexen Wirkungszusammenhang in seiner Entwicklungsdynamik quantifizieren? Vorsicht gegenüber psychologischen Stereotypen scheint geboten.
Die Frage ist nur, ob Steiner überhaupt eine »psychophysische Totaltypologie« beabsichtigt hat und nicht etwas ganz anderes. Im Original klingt es schlichter und auf Anhieb einleuchtend: »Das Temperament steht mitten drin zwischen dem, was wir uns individuell mitbringen, und dem, was aus der Vererbungslinie stammt. Indem die beiden Strömungen sich vereinigen, färbt die eine Strömung die andere ... So wie sich die blaue und die gelbe Farbe etwa vereinigen in dem Grün ...«
Doch was ist die Melange vorhergehender Erdenleben eines Individuums und der genetische Anteil der Vorväter? Man kann den Gegenbeweis nicht erbringen, solange man den geistigen Durchblick nicht hat. Mit »quantitativ-empirischen« Methoden gelingt das in Bezug auf die Temperamente und ihre hier angedeuteten Tiefendimensionen sicherlich nicht. Es sei denn, man erweitert oder spezifiziert seinen Begriff der Empirie. Pädagogen, die sich über ihre Wahrnehmungen an Kindern austauschen, kommen in einen »intersubjektiven Falsifikationsprozess«, auch wenn sie dabei ihr Subjekt nicht ausklammern. Was wäre auch eine Pädagogik ohne Subjekte?
Die Experten der erfahrungsgesättigten Kinderbetrachtung können am besten darüber urteilen, ob sich die vier klassischen Temperamente durch die beiden Merkmale »Erregbarkeit durch äußere Eindrücke« und »Stärke der seelischen Empfindungen« (Steiner) ausreichend bestimmen lassen (siehe Grafik auf Seite 18).
Bedauerlich ist, dass die jahrelangen Erfahrungen von Klassenlehrern auf diesem Gebiet nicht stärker kommuniziert werden. Liegt hier ein Forschungs- oder nur ein Kommunikationsdefizit vor? Die »Materie« ist jedenfalls zu heikel und zu komplex, um schnelle Temperaments-Diagnosen im Elternabendformat anhand angepinnter Kinderbilder durchzuführen.
Für den emeritierten Göttinger Universitätsprofessor Christian Rittelmeyer, auch er ein Erziehungswissenschaftler, sind die Temperamente nicht Schnee von gestern. Vielmehr unternimmt er den Versuch, ihnen empirisch auf die Spur zu kommen, ohne sie mit Implikationen zu überfrachten. Er hält, im Gegensatz zu Ullrich, die Temperamente für durchaus vereinbar mit der modernen Persönlichkeitspsychologie. Die Art, wie Steiner die Temperamente behandelt, stellt sie nach seiner Auffassung nicht in die schlichte Tradition einer »vorwissenschaftlichen« antiken Säftelehre, sondern in den Kontext einer völlig neuen Anthropologie. Mit Steiners Hinweisen auf die pädagogische Bedeutung der Temperamente sei uns kein Schematismus an die Hand gegeben, sondern »Charakterisierungen bestimmter Verhaltensstile« (nicht Verhaltensmerkmale!), die sich mischen und – in einseitiger Ausprägung – pathologische Züge annehmen können (beim Choleriker »Tobsucht« zum Beispiel).
Rittelmeyers schlichte und klare Frage lautet, ob es Übereinstimmungen mit der empirisch-psychologischen Temperamente-Forschung gibt. Und in der Tat: Er wird bei einigen »modernen« Wissenschaftlern fündig, die gar nicht weit von Steiner liegen – zum Beispiel hinsichtlich der »Vererbung« oder der biographischen Komponenten – wenn auch insgesamt der Begriff »Temperament« Unschärfen aufweise.
Rittelmeyer wendet das sogenannte Drei-Faktoren-Modell – das EAS-Modell von Arnold Buss und Robert Plomin – auf die klassischen Temperamente an und setzt die Temperamentseigenschaften Emotionalität, Aktivität und Soziabilität in Beziehung zu ihnen. Rittelmeyer hält als ein erstes Ergebnis fest, dass die Temperamente methodisch sauber entwickelbar und mit den Begriffen der neueren Persönlichkeitspsychologie kompatibel sind. Die Akte »Temperamente« kann also auch aus Sicht der Persönlichkeits- psychologie nochmals geöffnet werden. Weitere Forschungen wären wünschenswert.
Literatur:
Erziehungskunst, Heft 7/8-2004 und Heft 11-1991
Heiner Ullrich: Rudolf Steiner. Leben und Lehre, München 2011
Christian Rittelmeyer: »Die Temperamente in der Waldorfpädagogik. Ein Modell zur Überprüfung ihrer Wissenschaftlichkeit«, in: Harm Paschen (Hrsg.): Erziehungswissenschaftliche Zugänge zur Waldorfpädagogik, Wiesbaden 2010