Wir befinden uns im Eurythmieunterricht der ersten Klasse. Die Geschichte erzählt von fernen Ländern und deren Bewohnern – den Riesen. Alle leben ihr Leben auf ihre Art und Weise. Eines Tages treffen sie sich. Sie wundern sich, wie man so anders sein kann, entdecken dadurch aber auch sich selbst und ihre eigenen Stärken. Schließlich, nach einigen Streitereien und Kämpfen, werden sie immer neugieriger aufeinander und freunden sich an. Sie bitten einander um Rat oder Hilfe, wenn sie nicht weiterwissen oder -können. Zum Ende der Geschichte werden sie ein gutes Team. Einer traut dem anderen, zugleich sind sie das, was sie sind. Doch immer mal wieder muss ein Riese ausbrechen und sein Leben wieder ganz für sich alleine leben. Das ist nun mal so.
In den unteren drei Klassen begegnen die Kinder im Eurythmieunterricht neben den Riesen auch den Zwergen, sie begegnen Menschen- und Tierfamilien, in denen Vater, Mutter und Kinder jeweils ganz unterschiedlich fühlen und handeln. Sie begegnen Feuersalamandern, Gnomen, Undinen und Sylphen, sie begegnen Handwerkern, die alle unterschiedlich mit ihren Werkzeugen umgehen, sie begegnen den Läufen von Flüssen durch ihre Landschaften, machen Spannendes durch, verweilen und betrachten Einzelheiten, dann wieder sind sie plötzlich in ein aufregendes Geschehen involviert und immer wieder kehrt auch Ruhe ein.
Alles geschieht in Bewegung, im Kreis, in einer Schlange hintereinander, wild durcheinander im Raum herumlaufend oder in einer bestimmten Aufstellung zueinander. Vieles bewegen alle gemeinsam, dann wieder sind kleine Gruppen von mehreren Kindern an der Reihe oder einzelne möchten etwas ganz Bestimmtes vormachen. Die Kinder verwandeln sich im Laufe des Unterrichtsgeschehens von alleine in die Figuren und Ereignisse der Geschichten. Sie erleben die Abenteuer und gestalten sie mit. Jede Bewegung der Arme und Beine färbt sich von alleine durch die Kraft ihrer jeweils eigenen Temperamente.
Die Bewegungen der Choleriker sind energisch, spontan und kraftvoll, vielleicht sogar ein wenig rauhbeinig, wenn man nicht achtgibt, so wie das Feuer, das klare Bedingungen braucht, damit es nichts zerstört.
Die Phlegmatiker scheinen ein bisschen träge, doch sie gehen in einem gleichmäßig stetigen Schritt und achten sorgfältig auf die Trittstellen. Ihre Gebärden weisen eine etwas wässrig-zähe Ausdauer auf. Sie sind ruhig, ein wenig ausladend, umhüllend geformt und sorgsam.
Die Sanguiniker sind schnell und wach, zielgerichtet, hüpfen gerne und haben Freude an Richtungswechseln. Am liebsten wären sie an mehreren Orten gleichzeitig. Ihre Gebärden sind von luftiger Flexibilität, sie sind neugierig und springlebendig.
Wenn die Melancholiker in Bewegung kommen, formen sie jede Bewegung sorgfältig, liebevoll, umsichtig und gediegen. Sie bilden mit ihrer der Erde zugewandten Umsicht die Gebärden bewusster, der Schritt wirkt ein wenig verlangsamt oder kommt sogar gelegentlich zum Stillstand. Alles ist holzschnittartig genau.
Je deutlicher der jeweilige Charakter in der Geschichte durch den Text oder durch Ermunterungen des Lehrers in Erscheinung tritt, desto differenzierter fühlen und fügen sich die Kinder in den Bewegungsduktus aller vier Temperamente ein. Manches ist ihnen sehr vertraut, anderes liegt ihnen ferner. Und obwohl sie die Bewegungen des Eurythmielehrers nachahmen, nuancieren sie das Geschehen ganz eigenständig durch das Erleben aus ihrem Temperament heraus.
Die unterschiedlichen Ereignisse mit ihren Bewegungen sind immer mit Texten, Gedichten oder Geschichten, also mit dem gesprochenen Wort verbunden. Dazwischen oder zugleich unterstützen kleine Musikstückchen die Bewegung und die Stimmung des Geschehens. Jede Figur und jedes Geschehen spricht der Eurythmielehrer in einer etwas anderen Nuancierung des Sprachflusses, einem anderen Tonfall oder Tempo. Die Kinder hören das und bewegen sich von alleine ebenso mit.
Wenn es gelingt, im Eurythmieunterricht der ersten zwei bis drei Klassen die Gebärden und Schritte sowohl aus den Inhalten der Geschichten als auch aus dem konkreten Verlauf der Sprache zu fördern, werden die Kinder zur vierten Klasse hin wach für ihr eigenes Tun.
Einzelne Kinder beginnen zu spüren, dass ihre Bewegungen etwas mit der Sprache zu tun haben und entdecken ganz allmählich, dass die ausgeführten Gebärden mit den gehörten Lauten zusammenhängen. Sie haben große Freude, einzelne Lautbewegungen zu erkennen und sind begierig, alle Laute zu entdecken, zu üben und zu können. Sie wollen unbedingt selber »eurythmisch schreiben und lesen« lernen und das ganze Alphabet alleine können.
Laute – Temperamente – Elemente
Im Übergang von der dritten zur vierten Klasse fällt auf, dass jedes Kind seine Lieblingslaute wieder und wieder bewegen möchte, während es andere Lautbewegungen eher scheut oder sich die Bewegung gar nicht erst merken kann. Hierin sind die Temperamentslagen der Kinder wiederzuerkennen. Dazu die folgenden Erklärungen: D, T, G, K, B und P zum Beispiel brauchen einen gezielt gerichteten Stoß des Atems, um ausgesprochen zu werden. Sie kommen an, und sind fertig. Sie geben festen Grund und gehören in diesem Sinne zur Erde. Ebenso wird die Gebärde geführt. In diesen Lauten fühlt sich ein Melancholiker wohl, der zuerst nachdenkt und gründlich überschauen möchte, was er tun soll, bevor er handelt. Die Handlung ist dann meistens klar und deutlich.
Der rollende Laut R erfordert beim Sprechen eine bewegliche Zunge. Sie kann am Gaumen oder an den Zähnen in Bewegung gebracht werden, wie es einem gefällt. Sie braucht aber kontinuierlich einen leichten Atemimpuls – so wie der Sanguiniker auch gerne immer neu weitermacht. Hier und dort interessiert ihn etwas. Schon ist er da.
Das L hingegen kann man ohne das E als Vorlaut mit aufgerollter und breiter Zunge lange aussprechen, ohne intensive neue Atemimpulse geben zu müssen. Wenn, dann sind sie sehr zart, eher, um alles am Laufen zu halten. Das entspricht dem wässrigen Element und dem Bewegungsduktus eines Phlegmatikers.
Genauso ist es auch in der Gebärde: Rechter und linker Arm spiegeln die Bewegung schön gleichmäßig verteilt zwischen oben und unten, rechts und links.
Wenn sie sich treffen, geben sie gemeinsam der Bewegung einen leichten neuen Impuls. Die Konsonanten F, W, S, CH oder SCH brauchen während des Aussprechens den aktiv durchströmenden Atem, der ähnlich der Flamme des Feuers ist. Je nachdem, wie man diesen führt, wird der Laut leiser, lauter, schärfer oder milder. Diese Kraft der Atemführung ist der des Cholerikers verwandt. Er bleibt dran, geht impulsiv, vielleicht auch im Affekt, und mit sehr viel Kraft an etwas heran – manchmal schießt er über das Ziel hinaus. Oft bemerkt er erst hinterher, was er getan oder gesagt hat.
Auch hier entspricht die Bewegung der Atemführung: ein deutlicher Impuls und dann eine Art Nachklingen, so als wenn man sich fragen würde, was man gerade bewegt hat.
Wind – Woge – Welle – Wald
Beim Alphabet ist es also ähnlich wie bei den unterschiedlichen Figuren und Geschichten. Das eigene Temperament hat Lieblingsbewegungen, also Lieblingslaute. Da aber alle Laute des Alphabetes gebraucht werden, um Worte bewegend zu »schreiben«, muss jeder auch die anderen, ihm ferneren Laute kennenlernen und können.
Damit jedoch das Worte-Machen nicht zu einer neuen Geheimsprache wird, kommt eine weitere Verbindung von Bewegung und Sprache hinzu, in der die Temperamente der Kinder helfen, zu einer Differenzierung der Gebärden zu kommen.
Die Kinder verwandeln jeweils ein und denselben Laut, ihrem Temperament entsprechend, ohne dessen Identität zu verlieren. Zur Veranschaulichung ein Wort mit dem Laut W: Wind, Woge, Welle, Wald. Immer steht das W als Laut, der dem Feuer nahe ist, zu Beginn des Wortes. Die Worte beschreiben aber etwas ganz Unterschiedliches. Der Choleriker verstärkt das W des »scharfen Windes« mit der ihm innewohnenden eigenen Kraft. Das W wird sehr kräftig, scharf, sicher auch groß ausgeführt werden und vielleicht öfters unerwartet die Richtung wechseln.
Das W der »Woge« hingegen, als eine sehr große, ruhig dahinziehende Welle, gefällt dem Phlegmatiker. Er wird das W nicht nur groß, sondern auch in ruhiger, gleichmäßiger Bewegung sichtbar machen. Dabei darf er die Kraft der cholerischen Qualität des W nicht ganz verlieren. Sonst wäre es kein W mehr. Die Bewegung muss also gut strukturiert geführt sein.
Dem Sanguiniker gefallen die kleinen »Wellen«, die in einem Gebirgsbach entstehen, wenn das Wasser um die Steine spült. Seine W’s werden schnell und klein sein und in viele Richtungen gehen. Jeder Richtungswechsel benötigt bei diesem hohen Tempo von selbst ein wenig Cholerik und gewährleistet den Grundcharakter des W.
Für den dunklen undurchdringlichen »Wald« wird der Melancholiker das W vielleicht immer wieder mit einem kleinen cholerischen Ansatz langsam von unten nach oben bewegen, um die vielen aufrechten Bäume und die Undurchdringlichkeit des Waldes sichtbar zu machen.
In diesem Beispiel bildet die Bewegung des W als cholerischer Laut wie ein Basso Continuo den kontinuierlichen Unterton, der immer erkennbar sein muss, mit dem jedoch alle Temperamente auf ihre eigene Art umgehen.
Jedes einzelne Kind bewegt sein eigenes W, so wie es den »Wind«, die »Woge«, die »Wellen« des Gebirgsbaches und den »Wald« kennt oder in seiner Phantasie lebt. Hieraus führen die Kinder spontan ihre eigene Bewegung und versuchen, die der anderen Temperamente zu erwerben.
Qualitäten des Einzelnen führen zum Ganzen
In der fünften und sechsten Klasse wird die Aufmerksamkeit der Kinder immer mehr auf die qualitativ gehörte Lautfolge innerhalb einzelner Worte gerichtet. Welches Wort braucht welche Lautbewegungen, damit es sichtbar wird? Auch hier bringen die unterschiedlichen Temperamentlagen der Kinder viel Lebendigkeit in den Unterricht. Jeder sucht spontan seine Lieblingslaute aus dem Wort aus und färbt sie ein wenig dem Bild entsprechend. Das Wort mit seiner eigenen Aussagekraft soll aber ebenfalls sichtbar werden. Am Beispiel des Wortes »Frühling« wird das deutlich. Der Choleriker wählt das F, der Phlegmatiker wird das L nehmen, der Sanguiniker das R, der Melancholiker wird überlegen und nicht so schnell fündig.
Natürlich hat der Frühling mit dem F das Feuer des Aufbrechens der Knospen, er hat im R auch die ungeheure Vielfalt und die betörenden Düfte. Und er ist saftig und in stetem Fluss, so wie das L. Er hat das alles, das macht ihn aus! Im Wort »Frühling« gibt es außerdem noch die Endsilbe »ing«, zwei ineinander spielende Konsonanten, die der Melancholiker liebt. Sie scheinen nicht so eine große Rolle in dem Wort zu spielen, helfen aber, dass nicht alles wegfliegt, sondern mit der Erde verbunden bleibt.
Feuer, Luft, Wasser, Erde – in dieser Reihenfolge verlaufen die Konsonanten des Wortes »Frühling«. Alle vier Temperamente sind angesprochen, jedes Kind begegnet seiner Lieblingslautqualität. Und nun ist es die Aufgabe, eine Gebärde zu finden, in der alle Laute des Wortes sich so in der Bewegung verbinden, dass der Frühling mit all seinen Facetten sichtbar wird. Es bietet sich an, kleine Arbeitsgruppen von jeweils vier Kindern einzurichten, die verschiedene Möglichkeiten besprechen und ausprobieren, bis sie zufrieden sind und das so entstandene Wort »Frühling« zeigen können. Die Vokale dürfen als Übergänge von einem Konsonanten zum nächsten einbezogen werden. Der Lehrer geht herum und hilft, wo es nötig ist. Am Schluss des Prozesses werden pro Gruppe unterschiedlich geformte »Frühlinge« sichtbar werden. Man bespricht, was bei welcher Gruppe vom »Frühling« besonders gut zu sehen war und was sie noch genauer gestalten könnte.
Wenn die Kinder sich gegenseitig respektieren und unterstützen, entsteht in ihrem Zusammenspiel immer mehr, als der Einzelne kann. Im Eurythmieunterricht der fünften und sechsten Klasse entsteht dieser soziale Prozess in der Auseinandersetzung zwischen der eigenen Bewegung mit der Bewegung der anderen.
Eine Schule des Hinhörens und Hinsehens
Die Klassen sieben und acht bilden einen Übergang zu der Gestaltung größerer Zusammenhänge. Auch tritt nun immer mehr die Toneurythmie mit ihren musikalischen Gesetzen in den Vordergrund. Der Sprache entsprechend sind in ihr die Qualitäten der vier Temperamente zu finden. In der Arbeit fügen sich auch hier die Bewegungs- und Gestaltungsvorschläge der Jugendlichen zusammen. Allmählich treten jedoch andere Schwerpunkte in den Mittelpunkt.
Jeder Mensch handelt, fühlt und denkt ein Stück weit aus seinem Temperament heraus, auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist. Ebenso bewegen sich die Kinder und jungen Menschen im Eurythmieunterricht unbewusst aus ihren eigenen Temperamenten heraus. Durch den Umgang mit ihnen wird nicht nur die künstlerische Phantasie geschult, sondern vor allem das genaue Hinhören und Hinsehen. Was ist wahr, was versucht ein Dichter oder Komponist zu sagen? Wenn ich fähig bin, den jeweils anderen Standpunkt einzunehmen, wird das Urteilsvermögen objektiver, es ist nicht mehr nur von der eigenen Meinung abhängig. Ich werde als Mensch sicherer und offener für die Bereicherung durch andere.
Ziel ist es, das eigene Temperament einzugliedern in die Gemeinschaft und den Ausgleich in der Arbeit mit den anderen zu erfahren.
Zur Autorin: Helga Daniel ist international tätig im Bereich der Mentorierung von Eurythmielehrern an Waldorfschulen und ist im Namen der Sektion für Redende und Musizierende Künste am Goetheanum, Dornach verantwortlich für eurythmisch-pädagogische Ausbildungen.