Wir geben uns immer wieder der Illusion hin, dass es Täter nur an anderen Schulen gibt, nicht unter unseren Freunden und auf keinen Fall in unserer Familie. Wir sollten uns trauen, die Wahrheit auszuhalten, dass es Täter auch in unserem Kollegium, in unserem Freundeskreis und in unserer Familie gegeben hat und gibt. Täter sind nett, hilfsbereit, charismatisch, wir hätten es ihnen nie zugetraut! Immer wenn ein Täter entdeckt wird, sind alle fassungslos, dass dieser geachtete Mensch so etwas getan hat. Doch die Gewalt ist überall, wir sehen sie nur noch nicht.
Trauen sollten wir uns auch, trotz unserer Angst nicht mehr akzeptiert und geliebt zu werden, uns selber, die uns anvertrauten Kinder und unsere Kollegen vor grenzverletzendem Verhalten zu schützen. Mut ist, wenn ich Angst habe und es trotzdem tue. Ein erwachsener Mensch kann immer anders, er kann mutig für jemanden eintreten, der Schutz braucht, kann geistesgegenwärtig eine Handlung unterlassen, mit der er selber jemanden bedroht. Gewaltprävention können wir nicht an die Kinder delegieren. Präventionstheaterstücke wie »Sag nein« und »Dein Körper gehört Dir« oder »Erzähl mir Deine schlechten Geheimnisse« haben nicht den gewünschten Erfolg, dass Kinder sich besser vor Übergriffen schützen können. Sie können durch sie nur besser über ihren Körper reden, schreibt Günther Deegener in seinem Buch »Kindesmissbrauch«. Das ist nicht verwunderlich, denn die Erwachsenen, die übergriffig werden, sind geliebte Autoritäten. Das Kind kennt sie gut und vertraut ihnen, es versteht lange nicht, was für ein übles Spiel mit ihm gespielt wird. Nur in etwa 0,5 Prozent der handgreiflichen Übergriffe sind die Täter Fremde. Prävention kann nur erfolgreich sein, wenn jeder Erwachsene, der irritierendes Verhalten bei Kindern und verwirrendes Verhalten bei Erwachsenen in seinem Umfeld beobachtet, seine Verwirrung ernst nimmt und das ungewöhnliche Verhalten sachlich, mit Wochentag, Datum und Uhrzeit protokolliert und weiter beobachtet, was geschieht.
Gewalt hat viele Gesichter
Auf mehreren Ebenen können wir Gewalt beobachten, wenn wir einen sorgsamen Blick entwickeln. Unklare Leitungs-, Entscheidungs- und Verantwortungsstrukturen in der Schule, wie in der Klassen- oder Gruppenführung wirken zuerst »locker«. Benimmt derjenige, der diese unklaren Strukturen erfährt, sich daraufhin selber locker und ergreift das Wort und die Initiative, wird er kritisiert, abgewertet oder bestraft. Da es keine nachvollziehbaren, gültigen »Spielregeln« für alle gibt, weiß er nie, was von ihm erwartet wird. Es herrschen Willkür und Chaos. Gewalt wird auch ausgeübt, wenn Verantwortung verschoben wird. Wenn ein Pädagoge wütend wird, hat das Kind zwar das Gefühl ausgelöst, aber allein der ältere, bewusstere Erwachsene ist für sein Gefühl, seine Worte und Taten verantwortlich. Eine weitere subtile Gewaltausübung besteht in der Rollenunklarheit. Erwachsene jammern vor ihren Kindern über Partner, Kollegen, Finanznöte. Das Kind bekommt das Gefühl, es muss den Erwachsenen unterstützen, aber es ist viel zu klein, um Freund oder Freundin, Partner oder Partnerin für einen Elternteil oder Pädagogen zu sein. Es ist überfordert und verliert den sicheren Raum einer sorglosen Kindheit.
Auch Liebesentzug durch Schweigen ist eine Art von Gewaltausübung. Das Kind fühlt sich tief schuldig, es begreift gar nicht, was es Schreckliches getan hat, dass der geliebte Erwachsene so verletzt ist, dass ihm die Worte fehlen. Aber auch Blicke können uns abwerten und vernichten oder uns das Gefühl geben, ausgezogen und begehrt zu werden. Beides wird von Kindern und Jugendlichen als deutliche Grenzüberschreitung erlebt.
Grenzüberschreitend und gewaltsam kann auch die Stimme wirken. Schrilles Schreies geht durch die Haut bis auf die Knochen, es dringt tief ein; lautes, voluminöses Brüllen wirkt wie eine Dampfwalze, die die Kinder plattrollt. Das Kind fühlt sich nicht mehr sicher in seiner Haut.
Ein weites Feld der Gewaltanwendung ist Mobbing und Cybermobbing. Das Kind oder der Jugendliche verlieren ihren Raum zuerst auf dem Schulweg, dann auf dem Schulhof. Über das Internet dringen die Angreifer bis in das Zimmer, das Bett vor. Die Erwachsenen reagieren meist zu spät. Erst wenn zwei Jungen einem Mädchen KO-Tropfen geben, es ausziehen und alles, was geschieht, filmen und ins Internet stellen, ist das Entsetzen groß. All das ist Gewalt, die, bis vielleicht auf das letzte Beispiel, fortlaufend geschieht und in unserem Alltag kaum bemerkt wird.
Was ist strafbar?
Abwertende Bemerkungen gelten in den Schulgesetzen der Bundesländer als Straftat, die angezeigt werden muss und ein Disziplinarverfahren nach sich zieht. Es ist nicht erlaubt, einem Schüler zu sagen, »Dafür bist Du zu dumm«, »Mit so einem dicken Hintern kannst Du ja nicht über den Kasten kommen«, »Na ja, Du erbst ja mal, da brauchst Du ja auch nichts zu leisten« oder »Du bist durch und durch verdorben«. Jeder kann sich an solche oder ähnliche Sätze aus seiner Schulzeit erinnern. Sie bleiben hängen.
Strafbar sind zu festes Anfassen, Ohrfeigen, Schlagen und Schütteln. Das Gefühl, sicher innerhalb seiner Leibesgrenzen zu sein, bekommt eine Delle. Das Opfer und alle, die ihm nicht rechtzeitig helfen können, erleben Ohnmacht. Zeuge sein und nicht helfen zu können oder selber körperliche Übergriffe zu erleben, ist gleich schlimm. Im Erleben haben alle Kinder eine Ohrfeige bekommen, nicht nur das eine Kind, alle haben das Vertrauen in die geliebte Autorität verloren. Sexualisierte Gewalt durch Blicke, Fotos vom Popo oder Ausschnitt, sexistische Bemerkungen oder Witze, wie zufällig wirkende sexualisierte Berührungen, das Zeigen von Pornos oder Geschlechtsteilen sowie sexuelle Handlungen vor, an oder mit Kindern und Jugendlichen sind meist von langer Hand geplante Übergriffe. Der Täter startet einen wie zufällig wirkenden Testübergriff. Kann sich das Kind wehren oder weglaufen, sucht er sich ein anderes Opfer.
Bei sexueller Gewalt kriecht der Täter ganz unter die Haut seines Opfers, er wohnt dort wie ein Parasit. Da er älter und bewusster ist, manipuliert er das Kind. Im Opfer herrschen das Gefühl und der Wille des Täters. Das Opfer erlebt sich nicht mehr als eigenständiges Wesen.
Was tun bei Verdacht?
• Nehmen Sie die Irritationen ernst, die Sie bei dem Opfer und dem Täter wahrnehmen.
• Protokollieren Sie alles, was Sie verwirrt mit Wochentag, Datum und Uhrzeit.
• Wenden Sie sich an eine Beratungsstelle für sexuelle Gewalt. Dort kennt man sich mit allen Gewaltarten aus, die Beratung ist kostenlos und unterliegt der Schweigepflicht.
• Unternehmen Sie die Schritte, die Sie gemeinsam mit dem Berater geplant haben.
• Dem Kind oder Jugendlichen gegenüber nehmen Sie eine Schutzengelhaltung ein.
• So bald wie möglich sorgen Sie dafür, dass das betroffene Kind wieder einen sicheren Raum erleben kann.
Was man nicht tun sollte:
• Mit Kollegen reden. Diese reagieren erfahrungsgemäß entweder dramatisierend oder behaupten, das könne gar nicht sein. Dem Opfer ist damit nicht geholfen, aber über den sich schnell ausbreitenden Tratsch ruinieren Sie vielleicht den Ruf eines zu Unrecht Verdächtigten.
• Mit Tätern reden. Diese werden alles abstreiten, Sie lächerlich machen und schnellstens alles Material, das sie belasten könnte, vernichten, um ungestraft davon zu kommen.
• Täter und Opfer zusammen befragen. Der Täter wird das Opfer noch einmal demütigen, um einen weiteren Machtkick zu genießen.
Was tun, wenn man selber die Grenze eines Kindes verletzt hat?
• Rufen Sie die Eltern am gleichen Tag an, erzählen Sie den Vorgang sachlich und sagen Sie, dass es Ihnen Leid tut und Sie sich Hilfe holen werden. Erkundigen Sie sich, wie es dem Kind geht.
• Reden Sie mit Ihrem Mentor und/oder mit der Leitung.
• Ihre Ehrlichkeit wird Sie davor schützen, weitere Übergriffe zu machen.
• Bitten Sie Kollegen, Ihnen deutliches Feedback zu geben, wie sie vielleicht auch auf andere Art unbewusst übergriffig werden.
• Holen Sie sich Unterstützung in einer Beratungsstelle. Erproben Sie dort andere disziplinierende Möglichkeiten als zu schreien, zu fest anzufassen oder Abwertendes zu sagen.
• Wenn Kinder und Jugendliche Sie erotisch erregen, suchen Sie fachkundige Beratung auf (www.kein-taeter-werden.de).
Faktoren, die Täterpersönlichkeiten anziehen
• Weltanschaulich geprägte Institutionen mit hohen Idealen. Dort wird Täterverhalten aus dem kollektiven Gedächtnis abgespalten, damit das Ideal unangetastet bleibt und/oder die Gewalt wird sogar noch weltanschaulich gerechtfertigt.
• Institutionen mit unklaren, nicht transparenten Leitungs-, Verantwortungs- und Entscheidungsstrukturen und ohne klar formulierte »Spielregeln«, die für alle gelten.
• Institutionen mit autoritärer Führung.
• »Geschlossene« Institutionen, die alles alleine regeln wollen und kompetente Prozessbegleitung über einen längeren Zeitraum der Wandlung ablehnen und Supervision für überflüssig halten. (In der Mediathek des ARD, SWR, HR findet man den Link zu dem Film über die Odenwaldschule »Geschlossene Gesellschaft«.)
Was können Sie bei Missbrauch tun, wenn Sie in einer solchen Institution arbeiten oder Ihre Kinder dort betreut werden?
Sie können sich an den Vorstand wenden, er hat die rechtlichen Mittel. Sie können sich an den Bund der Freien Waldorfschulen wenden und um Unterstützung bitten. Bei Straftaten sind Sie verpflichtet, je nach Sachlage dem Jugendamt oder der Schulbehörde Bericht zu erstatten. Und lesen Sie das Buch von Ursula Enders »Grenzen achten«.
Zur Autorin: Ingrid Ruhrmann ist Mitbegründerin des Bernard Lievegoed Instituts in Hamburg und Mitglied der Fachstelle für Gewaltprävention des Verbandes Anthropoi.