Traumata therapieren. Fragen an Barbara Schiller, geschäftsführender Vorstand von stART international

Seit Ende 2018 ist das Team auf Lesbos unterwegs, wo es in dem mit 19.000 Menschen völlig überlasteten Lager Moria Flüchtlingskinder pädagogisch-therapeutisch betreut. Ebenso gibt es seit 2018 das Programm »Kunst für Frieden«, durch das im Inland Zukunfts- und Friedensarbeit geleistet wird. In der gegenwärtigen Corona-Krise bietet stART auch online Räume für Resilienzstärkung.

Erziehungskunst | Frau Schiller, Sie sind von Anfang an dabei. Was hat Sie zu Ihrer Arbeit gebracht?

Barbara Schiller | Entscheidend war vermutlich, dass ich mich in meiner Ausbildung nie an der Frage orientiert habe, welchen Beruf ich ergreifen möchte. Meine Leitlinie war immer, mich so auszubilden, dass ich – zumindest von meinem Gefühl her – für die Aufgaben, die mir das Leben stellt, vorbereitet bin. So ergab es sich, dass ich kurz nach dem Abitur direkt in der eigenen Familie mit Krankheit und Sterbebegleitung zu tun hatte. Da wurde mir klar, dass mich die Schule und auch meine sonstige Erziehung nicht ausreichend auf das Ergreifen der eigentlich notwendigen Lebensaufgaben vorbereitet hat. Die Frage, die sich also für mich stellte, war, was ist nötig, um auf das Unbekannte so vorbereitet zu sein, dass ein sinnvolles Handeln möglich ist. Dann habe ich mich in meinen Zwanzigern profund ausbilden lassen: sowohl ganz praktisch in der ländlichen Hauswirtschaft auf einem großen Demeter-Betrieb als auch im Pädagogischen,Künstlerisch-Therapeutischen und als Juristin. Ich fand immer, dass es schwierig ist, den Überblick zu bewahren, wenn die Perspektive zu eingeschränkt ist.

EK | Wir sind ja gerade auch jetzt während dieser Corona-Krise als Gesellschaft, wenn nicht gar als ganze Menschheit einer uns völlig unbekannten Situation ausgesetzt – und zwar völlig unvorbereitet. Auf was kommt es in Krisensituationen an?

BS | Ich würde sagen, es braucht unbedingte Zugeneigtheit dem anderen, sich selbst, der Welt, dem Dasein
gegenüber. Dann Offenheit und einen möglichst ungetrübten, weiten Blick und einen sicheren inneren moralischen Kompass, der einen dazu befähigt, auch sich selbst Einhalt zu gebieten. Eine Form von Mut, die gepaart ist mit Vertrauen in höhere Welten. Auch Demut und in gewisser Weise ein selbstbewusstes Bewusstsein davon, dass man keine Ahnung hat, wie was warum gehen soll. Aber den unbedingten Willen, in diesem ohnmächtigen Bewusstsein trotzdem oder gerade deshalb unter Einsatz seiner ganzen Kraft und Liebe in die Welt zu gehen und sich mit Gleichgesinnten zusammenzuschließen.

Als nicht sinnvoll empfinde ich in diesem Zusammenhang Besserwissertum, Überheblichkeit, Arroganz und persönliches Gier- und Machtstreben. Es ist eine eigenartige Erfahrung – diese Eigenschaften treten in Notsituationen oft hervor.

EK | Was macht den spezifischen Ansatz von stART international aus?

BS | Dass wir versuchen, geistesgegenwärtig zu sein. Wir kommen also nicht mit fertigen Rezepten an, die dann irgendwo draufgedrückt werden. Natürlich kennt jeder sein Handwerkszeug, versteht etwas von traumatherapeutischer Arbeit. Aber: Was braucht es hier und jetzt? Antworten dazu werden im Team vor Ort entwickelt – gemeinsam mit dem Umfeld. Dabei verstehen wir unter Teamarbeit nicht das Nebeneinanderstellen der unterschiedlichen Kompetenzen, wie das vielfach gemacht wird. Uns geht es vielmehr um das Zusammenführen der unterschiedlichen Perspektiven der Einzelnen, die unter einem bestimmten Gesichtspunkt angehört und dann gemeinsam in eine gemeinsame Aktion umgewandelt werden.

EK | Was heißt das konkret?

BS | Nehmen wir das Beispiel Lesbos, Moria. So etwas ist dann ja immer ziemlich erschütternd: das Elend vieler Menschen nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören, zu riechen. Die Scham, die einen überkommt, wenn wir sehen, wie wir als Menschheit mit anderen Menschen umgehen. Da ist es wichtig, dass jeder diszipliniert mit seinen inneren Erlebnissen umgeht und zum Beispiel seinen Nachbarn nicht mit den eigenen Gefühlen überfordert oder belästigt. Anschließend geht man in die gemeinsame Vorbereitung der Arbeit. Dazu gibt es zunächst einen Raum, in dem den eigenen Empfindungen Platz gegeben wird. Zu gewährleisten, dass dieser nicht völlig ausufert, ist gar nicht so leicht. Und dann kommen die Fragen: »Wozu sind wir hier? Und was brauchen die Kinder, die Menschen, mit denen wir es hier zu tun haben?« Dazu äußert sich dann jeder Einzelne aus seiner persönlichen und berufsspezifischen Perspektive. Daraus ergibt sich ein gemeinsames Bild, aus dem heraus entwickeln und planen wir dann unser gemeinsames Vorgehen. Ich erlebe das als wirkliche Inter-, vielleicht sogar Transdisziplinarität. Und oft kommt es vor, dass einer von uns, der ja selber Fachmensch ist, aus der Sache heraus zum Assistenten seines Kollegen wird. Also nicht im Mittelpunkt steht, sondern sich helfend zur Verfügung stellt. Das ist ein ungewöhnlicher Ansatz, meine ich, da wir in der Regel immer unsere eigene Expertise einbringen möchten.

Besonders komplex wird dieses Vorgehen in Krisengebieten, in denen alle seelisch sehr dünnhäutig sind – und in denen es kaum persönlichen Rückzugsraum gibt. In denen die Helfer, wie gerade jetzt im Frühjahr in Lesbos, selbst zu Angegriffenen werden – und Sicherheitsfragen eine große Rolle spielen, die aus der Sache heraus nicht im Gruppenprozess, sondern hierarchisch von der Einsatzleitung gemeinsam mit dem Team in Deutschland entschieden werden. Dazu ist soziale Beweglichkeit notwendig – und ein vielschichtiges Realitätsverständnis.

EK | Eine Schlüsselfunktion ihrer Arbeit ist die Kunst. Warum?

BS | Ich erlebe die Kunst, das künstlerische Tätigsein als ein unheimlich hilfreiches Geheimnis. Künstlerisches Tun scheint eine Art heilende Wirkung auf das Herz zu haben. Sie bietet dem Menschen die Möglichkeit, sich auf einer tieferen Ebene als es der Intellekt ist, auszudrücken und wieder Anschluss an etwas Heiliges, an seine eigene Würde und an die des Mitmenschen zu finden. Wie oft erleben wir, dass wir im Gespräch scheinbar an Grenzen stoßen. Und wir wissen einfach nicht, wie wir diese überwinden können. Es ist ein Wunder, wie in der Poesie, in der Musik, in der Malerei Grenzen dieser Art entweder einfach stehengelassen oder durchdrungen werden können – und Neues entwickelt wird.

EK | Sie bezeichnen diese Arbeit auch als Friedensarbeit?

BS | Wir sehen doch deutlich, wie wir uns als Gemeinschaft im Kleinen wie im Großen polarisieren. Das führt, wenn wir nicht bewusst etwas anders machen, zu einer Abkühlung im Sozialen und zu Grenzziehungen. Wie aber erwärmen wir das Soziale, unser Gemeinschaftswesen? Wie weichen wir Grenzen auf, die wir selber stecken oder die gesteckt werden? Da die uns sehr vertraute Gesprächsform in der Regel die Diskussion ist, eine auf Linienführung und Grenzziehung ausgerichtete Art des Sprechens miteinander, ist Reden oft wenig hilfreich. Künstlerisches Tun und Erleben ist diesbezüglich weniger vorbestimmt. Hier kann gemeinsam ein entsprechender unbelasteter Wärmeraum geschaffen werden. Das dient meinem Verständnis nach dem Frieden und stärkt Herzenskraft für friedliche Zukunftsbilder.

EK | Zu Ihren Schulungsangeboten gehört auch der Schutz vor indirekten Traumatisierungen, das heißt, die Helfer drohen traumatisiert zu werden?

BS | Natürlich können Helfer traumatisiert werden, aber auch ganze Systeme können Trauma-Dynamiken entwickeln. Traumatisierungen können über Generationen weitergegeben werden. Ich empfinde es als Segen, dass wir heute schon ziemlich viel über die Folgen unterschiedlichster Traumatisierungen, über die Folgen sogenannten toxischen Stresses wissen. Und ich denke, dass Grundkenntnisse hierüber zum Allgemeinwissen gehören sollten. Ebenso wie Kenntnisse darüber, wie die kreativen und heilenden Kräfte, die in jedem Menschen liegen, geweckt werden und seine Resilienz stärken können. Das kürzlich von uns herausgegebene Buch Kinder stärken – Zukunft gestalten soll möglichst vielen Menschen, entsprechende Grundkenntnisse vermitteln.

Für mich persönlich stellt sich die Frage, ob nicht auch in der Gesellschaft Traumata sozusagen getriggert werden können – und dann wie automatisiert bestimmte Reaktionsabläufe auslösen oder Angstatmosphären bilden. In jedem Fall, die Katastrophen nehmen zu und es ist höchste Zeit, dass wir uns mit der Gesamtthematik intensiver auseinandersetzen.

Die Fragen stellte Mathias Maurer.