Unmögliches kann möglich werden

Hannah Götte, Rebecca Löschner

Wir stehen am Flughafen in Kairo. Der Schweiß läuft uns von der Stirn. Die Augen müssen sich erst an das helle Licht gewöhnen. Ägypter stehen um uns herum, die auf ihre Verwandten oder Geschäftspartner warten. Es ist schwül und heiß. In der Luft liegt ein beißender Geruch, der, wie wir später erfahren, von Müllverbrennungen stammt. Ein kleiner, dunkler Mann kommt in ägyptischem Schleich-Tempo auf uns zu, grinst uns an und fragt »Sekem?«. Wir sind froh, endlich unseren Fahrer gefunden zu haben und steigen erschöpft in den kleinen Bus, der uns nach Sekem bringen soll. An unserem Fenster zieht Kairo vorbei. Eine fremde Welt in Beige – Häuser, Straßen, wenige Büsche, alles ist von einer Staubschicht bedeckt. Wir fahren auf einer achtspurigen Autobahn. Menschen laufen mit Kindern über die Fahrbahn, ab und zu begegnet uns eine Eselskutsche. Die Pick-ups, oft so hoch mit Wertstoffen beladen, dass man meinen könnte, sie berührten den Himmel. Obenauf noch ein, zwei Ägypter, die den kühlen Fahrtwind genießen.

Nach einer guten Stunde hupenden, scheinbar chaotischen, aber doch geordneten Verkehrs mit verbeulten Autos kommen wir in Sekem an. Eine grüne, bunte Oase, umgeben von mit Mauern umgrenzten Feldern, dazwischen weiße Häuser, große, grüne, blühende Bäume und vor allem: Gras. Der Duft von Wasser, durchmischt mit den Gerüchen vieler verschiedener Pflanzen steigt uns in die Nase.

Sekem ist ein vor 40 Jahren gegründetes ökonomisches Modell für ganzheitliche und nachhaltige Entwicklung, in der biologisch-dynamische Landwirtschaft, Erziehung, Bildung und soziale Entwicklung ineinander- greifen. Zur Sekem-Gemeinschaft, die etwa 2.000 Menschen Arbeit bietet, gehören Kinderkrippen, Kindergärten, Grund-, Haupt- und Berufsschulen, ein Gymnasium, die Heliopolis Universität und eine Einrichtung für seelenpflegebedürftige Kinder und Erwachsene. Die sogenannten »Kamillen-Kinder«, die aufgrund ihrer sozialen Lage arbeiten müssen, können an einem besonderen Programm teilnehmen und erhalten hier eine schulische oder berufliche Ausbildung. Im Gegenzug helfen sie in der Landwirtschaft.

Aus der Unternehmensgruppe Sekem gingen mehrere Firmen hervor: Isis, die Lebensmittel und Tees produziert, Lotus verarbeitet organische Kräuter und Gewürze nach Demeter-Richt­linien und verfügt über ein globales Vertriebsnetz, Atos ist für die Entwicklung, Produktion und den regionalen Vertrieb pflanzlicher Medikamente verantwortlich. Naturetex stellt Kleidung, vor allem Kinder- und Babytextilien aus organischer Baumwolle her. Ein Medical-Center versorgt die Mitarbeiter der Farm und jährlich etwa 40.000 Menschen aus der Umgebung.

Wir gewöhnen uns an die Hitze, die bis zu 45°C erreicht. Nicht gewöhnlich für diese Jahreszeit, versichern uns die Bewohner. Schon am nächsten Morgen in der Frühe laufen wir zur Schule. Dort treffen wir Lehrer, die die Sommerferien für ihre eigene Fortbildung nutzen. Mit ihnen stellen wir uns in einen Morgenkreis. Mit einem Morgenspruch beginnt der Tag für jeden Mitarbeiter auf Sekem. Wir werden vom Werklehrer zum Pausengelände der Unterstufe gebracht. Hier soll unser Projekt, ein Kletter- und Spielgerüst, entstehen. Wir arbeiten mit einfachstem Werkzeug. Die Mühe wird von der großen Begeisterung der Kinder und Erwachsenen belohnt, die zur Eröffnungsfeier kommen, um mit uns zu feiern.

Auf Sekem lernen wir eine Waldorf-inspirierte Schule kennen. Architektonisch erinnern die Gebäude an unsere Waldorfschulen und Kindergärten. Der Islam ist omnipräsent. Gebete werden fünf Mal täglich gesprochen, sogar eine Moschee steht auf dem Gelände. Gleichzeitig wird Waldorfpädagogik ganz praktisch erfasst und umgesetzt. Das Studieren der Anthroposophie und der Waldorfpädagogik ist hier nicht Aufgabe der Lehrer, sondern derjenigen, die die Lehrer ausbilden. Doch statt der Benennung »anthroposophisch«, »Waldorf« oder dem theoretischen Analysieren von Steiner-Texten wird versucht, durch Gefühl, Liebe und Hingabe das im Mittelpunkt stehende Kind zu erziehen. Es ist erstaunlich, wie gut hier die Waldorfpädagogik in viele Bereiche greift und diese bereichert. Sobald man die Einrichtungen betritt, herrschen eine angenehme Atmosphäre und ein liebevoller Umgang.

Vor allem nehmen wir als angehende Lehrer die Erfahrung mit, wie nahezu aus einem Nichts – hier an einem Ort in der Wüste – etwas entstehen kann. Es ist uns ein Sinnbild, dass auch wir es schaffen können, die große Aufgabe des Waldorflehrers zu übernehmen. Denn manchmal gibt es Momente, in denen wir uns fragen: »Bin ich schon reif genug für diese Arbeit?« oder »Bin ich dieser Verantwortung gewachsen?« Die Arbeit am Projekt schien zu Beginn utopisch. Doch es gelang uns, da wir alle an einem Strang gezogen haben! – eine Erfahrung, die durchaus relevant für die Arbeit, zum Beispiel im Kollegium, sein kann: Wie viel Kraft hat der Andere? Wie viel Kraft kann ich selbst aufbringen und wann muss ich eine Pause machen? Wie viel kann ich Anderen zumuten? Das alles wollen wir mitnehmen und weitergeben.

www.sekem.com

Zu den Autorinnen: Hannah Götte und Rebecca Löschner sind beide Klassenlehrer-Studentinnen der Freien Hochschule in Stuttgart.