Auf der Treppe zur zweiten Etage der Hängebank pulsiert das Blut, klopft unter der Zunge, übernimmt den Rhythmus der Hammer-Glockenschläge am Förderkorb. Grundlos? Da drüben, das Leseband, jedoch ohne Heiner? Heiner steht immer als erster am Band, ächzend faustgroße Berge von der Kohle trennend. Heiner, 40 Jahre alt, gibt das Bild eines zerschundenen asthmatischen Achtzigjährigen. Wo ist Heiner? »Silikose«, höre ich Jupp sagen, »kein Asthma«. Ich sehe und seh es nicht – Jupps Augen schlagen ein Kreuz. Es folgt Schweigen, keine Fragen. Dann Ankunft im Revier vor Ort.
Seit Monaten das sich wiederholende Ritual im Schweigen. Auch hier bei sorgfältiger Überprüfung des Gezähes (Werkzeug) Schweigen und die Untersuchung, Abklopfen des Gebirges, noch tieferes Schweigen. Wir sollen in der Kopfstrecke (dem oberen Ende eines Strebes) eine Gebirgsstörung absichern und für die weitere gefahrlose Nutzung ausbauen. (Die Gebirgsschicht ist sicher zu Zeiten der Gebirgsfaltung gerissen.)
Ein Spalt von einem Meter Breite und drei Metern Höhe hat sich bei Streckenerrichtung aufgetan.
Jupp stellt eine Leiter auf und steigt in den Störungsspalt, verharrt einen Moment, kommt zurück, setzt sich und sagt: »Buttern«. Das war neu für mich. Jupp packt eine Kniffte aus, zwei Bissen sind ihm jetzt genug, verstaut das Brot, steht auf, sieht in den Berg, tastet ihn mit den Augen ab und spricht zum Berg »Glückauf« und zu mir: »Drei Palisaden, ein Stempel, Du weißt, also Glückauf.« Dann steigt er in den Spalt. Ich habe auf seine Ansagen zu warten. Die sind kurz:
»Gib mich die Beile.« – »Palisade, nee die andre.« – »Palisade, drei Fuß, zwei Finger.« – »Stempel, drei Fuß, vier Finger.« Die Maßangaben haben millimetergenau zu stimmen und sie stimmen nach monatelanger Übung und Miteinanderarbeiten.
Jupp hangelt im Berg mit dem linken Fuß auf der Leitersprosse und ich auf der Sohle, stehe auf feuchtem Grund, den Mittelpunkt Erde tretend bei jedem Schritt. Fest gestützt.
Im Rücken, den Schulterblättern, spüre ich den Berg, das Gebirge, den Stein. Es spricht, die Berge sprechen, sprechen in mir und ich schreie, schreie es aus, schreie: »Jupp – der Berg, der Stein bricht.« Jupp erschrickt, springt aus etwa zweieinhalb Metern Höhe hinunter, rappelt sich auf, steht mir gegenüber, will was sagen, kriegt keinen Laut raus. Eine Minute, zwei Minuten, endlose Zeit. Wir sehen einander ins Auge, warten, schweigen. Endlich, der Berg knistert in die Lautlosigkeit, in das Schweigen hinein. Und wieder ist Stille. Ich vernehme drei tiefe, befreite Atemzüge des Kumpels und es brüllt plötzlich der Berg, er brüllt sein Krachen, löst einen Sargdeckel (großer Gesteinskörper) aus dem Hangenden (überlagernde Gesteinsschicht). Die Staubwolke versperrt für Minuten die Sicht. Wir sperren die Strecke noch für jeglichen Verkehr und beenden die Schicht vorzeitig.
Zum Schacht für unsere Seilfahrt nehmen wir nicht die Bahn, sondern fahren die anderthalb Kilometer zu Fuß. Ja, Untertage geht der Bergmann nicht, er fährt.
Nach zwei Minuten Seilfahrt kommen wir an: Übertage.
Wer ist Retter? Hat der Berggeist gesprochen? Der Schutzengel den Rücken gestützt?
Der Berg hat uns entlassen in das Licht des Tages, der Sonne und auch in das Nachtlicht des Himmels.
Jupp hat mich tags darauf in sein Haus geladen. Und in seiner Familie habe ich einen gänzlich anderen Jupp kennen lernen dürfen. Dieser Schweiger im Berg ist bei Tage ein witziger Lacher.
Zum Autor: Axel Eichenberg, ehemaliger Bergmann und Geschäftsführer einer waldorfpädagogischen Einrichtung, ist Schauspieler.