Ausgabe 03/24

Beherzte Veränderung – auch wenn‘s weh tut

Martyn Rawson
Ulrike Sievers

Ulrike Sievers: Der Feststellung, dass Veränderung nottut, aber auch weh tun kann, wird wohl kaum jemand widersprechen und in der Theorie sind sicherlich auch viele dazu bereit, gewisse Schmerzen für sinnvolle Veränderungen auf sich zu nehmen. Wenn es dann allerdings in die Praxis geht, wenn die Theorie real wird, wenn Lippenbekenntnisse nicht mehr ausreichen, wenn unser Tun and Handeln gefragt ist, dann werden auf einmal auch die theoretischen Schmerzen real - sind nicht nur für die anderen schmerzhaft, sondern auch für uns. Das erleben wir bei einem Themenkomplex, mit dem wir uns zurzeit viel beschäftigen und der neben Umweltschutz und Klimawandel ganz oben auf der Liste dringender Themen steht. 

Es geht um Themen wie Diversitäts-Bewusstsein, Rassismus-Sensibilisierung, Gendervielfalt und Dekolonisierung - Themen, die für viele Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft eher noch als Randthemen gelten, auch wenn mittlerweile, nach einem jahrelangen Ignorieren von gender-inklusiven Sprachformen in Waldorfkreisen, zumindest in den offiziellen Dokumenten des Bundes der Freien Waldorfschulen (BdFWS) und in der Erziehungskunst eine genderbewusste Sprache Einzug gehalten hat.

Zurück zum Thema Rassismus-Sensibilisierung und Dekolonisierung – hinter dem viel mehr steckt, als viele zunächst vermuten. Da geht es zunächst um Bewusstsein, dann um Veränderung. Es geht um Sprache und um Geschichten. Es geht um Strukturen, die zu Diskriminierung führen. Und es geht darum, dass wir uns darüber bewusstwerden, dass dort, wo Menschen diskriminiert werden, andere Menschen Privilegien haben.

Martyn, seit einigen Jahren gibt es auch in der Waldorfpädagogik den Diskurs zur De-Kolonisierung und auch Du beschäftigst dich ja seit Jahren mit dieser Thematik. Kannst du den Begriff etwas genauer beleuchten?

Martyn Rawson: Gerne! Der Begriff Dekolonisierung ist eine Metapher und bezieht sich auf den Prozess der kritischen Überprüfung vergangener und bestehender Praktiken, bei dem nach Anzeichen für rassistisches Gedankengut, institutionellen Rassismus, diskriminierende Handlungen gegen People of Color, Frauen, queere Menschen oder andere Gruppierungen gesucht wird.  Mit Blick auf Schule geht es dabei auch darum, sicherzustellen, dass junge Menschen etwas über die kurz- und langfristigen Auswirkungen der Kolonisierung auf einen sehr großen Teil der Welt lernen. So lebten etwa im Jahr 1914 80 Prozent der Weltbevölkerung unter irgendeiner Form des Kolonialismus. Deutschlands eigene koloniale Vergangenheit war bis vor Kurzem weitgehend in Vergessenheit geraten, weil die Bewältigung der Shoa als die zentrale historische Aufgabe angesehen wurde. Aber angesichts der Tatsache, dass Deutschland sich schwer tut, ein Migrationsland zu sein, sind das Thema Rassismus und die Herausforderungen des Lebens in einer inter- und multikulturellen Gesellschaft hochaktuell.

Was 2015 an südafrikanischen Universitäten begann, hat sich auf andere Universitäten ausgeweitet und wurde durch den Tod von George Floyd und die Black-Lives-Matter-Bewegung beflügelt. Der Imperativ zur Dekolonisierung von Lehrbüchern, Museen und Zeitungen wurde vorangetrieben. Auch Waldorfschulen haben mit diesem Prozess begonnen. Sowohl die Association of Waldorf Schools in North America als auch Waldorf Education UK haben die Themen Vielfalt, Inklusion und soziale Gerechtigkeit sowie Entkolonialisierung zu einer Priorität ihrer Arbeit gemacht. In Nordamerika führt eine Gruppe von Lehrkräften, vor allem People of Color und Indigene, unter dem Namen Alma Partners Programme durch, die Schulen zu Themen wie Dekolonisierung des Lehrplans und White Privilege beraten. In Nordamerika liegt der Schwerpunkt der Arbeit historisch begründet auf dem Erbe der Sklaverei und dem Umgang mit den indigenen Völkern. Auch in Deutschland gibt es Initiativen. So haben zum Beispiel Miriam Nuenning und Maria Umbach in Berlin das Projekt „Umoja – Institut für Rassismuskritische Waldorfpädagogik“  gestartet. Ihre Arbeit ist von dem Wunsch getragen, dass Waldorfeinrichtungen Orte sind, an denen sich alle Menschen wohl, gesehen und repräsentiert fühlen und keine Ausschlüsse (beabsichtigt und unbeabsichtigt) erfahren müssen. Sie möchten ein Bewusstsein dafür schaffen, wie Waldorfeinrichtungen inklusiv und rassismuskritisch gestaltet werden können.

Ulrike Sievers: Ja, genau. Im August 2023 haben Miriam Nuenning und Maria Umbach in dem #waldorflernt-Podcast «Gegenwart hören, Zukunft gestalten» über das Anliegen ihrer Arbeit berichtet. Zudem bieten sie seit letztem Herbst über die elewa-Plattform eine Reihe von Online Treffen an, in denen sie Kolleg:innen unter dem Titel «Rassismus-Sensibilität an der Waldorfschule» zum Austausch einladen. Im Rahmen des #waldorflernt-Online-Angebots bin ich dann auch auf eine Arbeit von Jule Bönkost aufmerksam geworden, in der es darum geht, dass sich weiße Menschen - in diesem Fall Lehrer:innen – bewusst darüber werden, welche Privilegien weiße Schüler:innen und weiße Lehrkräfte an den meisten deutschen Schulen haben. Der Autorin geht es dabei nicht um eine Schuldzuweisung, sondern lediglich um ein Aufmerksam-Werden. Was bedeutet es für weiße Kinder und Jugendliche, wenn sie davon ausgehen können, dass die Mehrheit ihrer Mitschüler:innen ebenfalls weiß ist und dass sie weiße Lehrer:innen haben werden? Und was bedeutet es auf der anderen Seite für BiPoC (Black, Indigenous, People of Color) Kinder und Jugendliche, wenn sie davon ausgehen müssen, zu einer Minderheit zu gehören, nicht damit rechnen können, dass ihre Lehrkräfte ebenfalls BiPoC sind. Und es sei nochmal betont: Es geht nicht darum, ob diese Zahlenverhältnisse gut oder schlecht sind. Oder woran es liegt, dass sie so verteilt sind und nicht anders. Es geht an dieser Stelle darum, wahrzunehmen, wie solche Verhältnisse sich auf die Menschen, auf unsere Schüler:innen, auswirken mögen.

Martyn Rawson: Zu den weißen Privilegien gesellt sich ein Gefühl, das im Englischen als White Fragility beschrieben wird - ein Begriff, der sich schwer ins Deutsche übersetzen lässt. «Weiße Empfindlichkeit» kommt dem wohl am nächsten. Das Privileg der Weißen besteht darin, als Weiße:r nicht mit den Herausforderungen konfrontiert zu sein, mit denen People of Color oder andere Menschen, die aus irgendeinem Grund als «anders» wahrgenommen werden, ihr ganzes Leben lang tagtäglich zu kämpfen haben. Viele Weiße sind sich dieses Privilegs wenig oder gar nicht bewusst und können sich in die Rolle der anderen kaum hineinversetzen. Auch Männer - ob Schwarz oder weiß – wissen in der Regel nicht, wie sich Sexismus auf Frauen unterschiedlichen Alters auswirkt. Und hier kommt nun die weiße Fragilität ins Spiel, als ein weiterer Aspekt, der die Entkolonialisierung erschwert.

Robin Diangelo bezeichnet es als weiße Fragilität, wenn Weiße, die sich selbst für fortschrittlich, aufgeklärt und wohlmeinend halten, meinen, sie hätten das Gefühl des weißen Privilegs überwunden und würden verschiedene Hautfarben gar nicht mehr bemerken, geschweige denn bewerten. Wenn sie dann aber zu ihrem Verhalten und ihrer Einstellung befragt werden, fühlen sie sich unwohl, fühlen sich bedroht und unsicher, werden defensiv oder regelrecht aggressiv, vor allem wenn über institutionellen Rassismus gesprochen wird. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani beschreibt am Beispiel weißer Männer, wie weiße Fragilität entsteht und sich zeigt. Zunächst weist er darauf hin, dass die Identitätskategorie der «weißen Männer» - heterosexuell, ohne Behinderung und gegebenenfalls aus Westdeutschland – neu ist. Alle anderen diskriminierten Gruppen, wie Frauen, LGBTQ+, Muslime, Juden, Roma, Sinti, Menschen mit Behinderung und so weiter, haben etablierte Etiketten und sind es gewohnt, positioniert und kategorisiert zu werden.

«Eines der größten Privilegien ist es, keine Kategorie zu besitzen, und das war bisher nur Männern vorenthalten, weißen Männern. Dann hat man die Freiheit, entweder links oder liberal oder konservativ … zu sein. Mann ist ein Mensch mit Eigenschaften, eine Persönlichkeit mit vielen Rollen, denen Mann eine individuelle Note gibt. … In jedem Fall ist Mann ein Individuum und nicht festgeschriebenes Mitglied einer imaginären Identität. Das ist eine starke Form der Freiheit. Allein mit der Verwendung des Begriffes ,weißer Mann‘ und der dadurch vollzogenen Kategorisierung ist dieses Privileg schlicht weg.»

Interessanterweise führt El-Mafaalani hier genau das gleiche Argument an wie Rudolf Steiner in der Philosophie der Freiheit. Steiner weist schon 1893 darauf hin, dass Frauen darunter litten, dass Männer erst die Frau und dann die Person sähen, während dies für Männer weit weniger ein Problem sei. Über andere Personengruppen spricht er nicht.

Bei Mafaalani heißt es: «Da ,weiße Männer‘ den Zwang einer Kategorisierung noch nicht lange gewohnt sind, kann man die Wirkung hier gut studieren: Sie reicht von zustimmender Selbstkritik über Verunsicherung und eine abwehrende Opferhaltung bis hin zu offenem Zorn. Es ist der Zwang, sich verhalten zu müssen, nämlich gegenüber einem Vorurteil, das wie ein Damoklesschwert immer über einem schwebt. Nun ist auch die letzte freie Gruppe in einer symbolischen Schublade. Das langfristige Ziel wäre es, alle Kategorien aufzulösen, aber ganz so weit sind wir ganz offensichtlich nicht.»

‚White Fragility‘ kann dazu führen, dass Menschen sich weigern, kritisch über rassistische Positionen nachzudenken. Ihnen fehlt es oft an Einfühlungsvermögen oder Erfahrung, um die Dinge aus der Perspektive von BIPoC zu sehen, und sie können nicht wirklich verstehen, warum andere Menschen das Thema ansprechen.  Sie halten Affirmative Action für ungerecht und bringen oft legalistische Argumente dagegen vor, wie zum Beispiel die Möglichkeit einer Diskriminierung weißer Männer. Auch sind sie schnell dabei, Fragen der Dekolonisierung als übertriebene Formen des «Woke-seins» beziehungsweise der politischen Korrektheit abzutun.

Ulrike Sievers: Es tut weh, wenn wir uns in manchen Situationen eingestehen müssen, dass wir trotz bester Absichten doch immer wieder Fehler machen, uns ohne böse Absicht so verhalten, dass andere Menschen sich ausgegrenzt fühlen, oder Dinge sagen, die andere als verletzend empfinden. Das führt zu Unwohlsein, Traurigkeit, Schmerz – Gefühle, die, wenn sie sich in Ärger, Wut und Aggression verwandeln, diejenigen, die etwas verändern wollen, die endlich gesehen und benannt werden wollen, ungläubig bis fassungslos stehen und staunen lassen. Da kann es schon hilfreich sein, sich solche Mechanismen wie die beschriebene Fragilität bewusst zu machen. Und es lohnt sich, genau hinzuspüren und zu lauschen, wenn sich Widerspruch in uns regt, wo die Wurzeln dafür liegen - und gleichzeitig sowohl mit unseren eigenen Fehlern ebenso wie mit den Fehlern anderer verständnisvoll umzugehen, das Gespräch zu suchen, um im Dialog voneinander zu lernen und gemeinsam zu wachsen.

Martyn Rawson: Veränderung geschieht eben nicht über Nacht - und auch nicht unbemerkt. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass wir uns darüber bewusst werden, dass die Folgen weißer Privilegien und Fragilität als Formen langsamer Gewalt erlebt werden - langsam, weil sie kontinuierlich auftreten und nicht immer sichtbar sind. Institutioneller Rassismus beruht in der Regel nicht auf konkreten Handlungen von Menschen, sondern ist vielmehr das Ergebnis von Einstellungen, Routinen, Annahmen und Dingen, die unbemerkt und in der Regel unbeabsichtigt sind. Wenn zum Beispiel eine Waldorfschule in einer Stadt mit multikultureller Bevölkerung keine oder nur sehr wenige BIPoC Schüler:innen und Lehrkräfte hat, kann dies als institutioneller Rassismus wirken. Die Lehrkräfte beteuern, dass sie für alle Kinder offen sind, aber das Fehlen von Lehrkräften of Colour oder mit Migrationshintergrund wirkt wie ein unbeabsichtigtes Signal. Institutioneller Rassismus ist die Folge eines komplexen Bündels von Faktoren, wie zum Beispiel dass BIPoC oder Anhänger anderer Glaubensrichtungen nicht wollen, dass ihre Kinder die einzigen BIPoC oder muslimischen, jüdischen, hinduistischen Kinder in der Klasse sind. Oder die Sorge, dass weiße Lehrkräfte die Herausforderungen eines BIPoC Kindes nicht verstehen. Oder eine BIPoC Lehrkraft möchte vielleicht nicht in der Situation sein, die einzige BIPoC Kolleg:in in der Einrichtung zu sein. Vielleicht ziehen es einige BIPoC oder Anhänger anderer Glaubensrichtungen vor, zusammenzubleiben und wollen sich aufgrund des Teufelskreises von Ausgrenzung, Othering (Distanzierung zu Gruppen) und Gruppenidentität lieber in Räumen bewegen, die sie als ‘safer spaces’ (sicherer Räume) wahrnehmen. Dann kann die weiße Mehrheitsgruppe sagen oder denken, dass die «anderen» nicht dazugehören wollen - also sind sie selbst schuld. Wie Mafaalani sagt, ist Integration weder einfach noch jemals abgeschlossen, sondern eine ständige Herausforderung für jede Generation. Sie ist nicht etwas, das ein für alle Mal erreicht ist.

Ulrike Sievers: Das ist wirklich ein Teufelskreis, der gar nicht so leicht zu durchbrechen ist. Dabei gibt es diese Diskussionen schon ziemlich lange. Wenn wir auf Schulbücher und Schullektüren blicken, dann wurde eine ähnliche Frage schon in den 1980er Jahren mit Blick auf die Darstellung und das Vorkommen von Mädchen und Frauen vehement gestellt. Leider, ohne überall zu entsprechenden Ergebnissen und Veränderungen zu führen. Mittlerweile wird es nun immer deutlicher, dass wir die Frage der Gender-Repräsentation erweitern müssen. Wie geht es all den «anderen» Kindern und Jugendlichen damit, wenn sie in Bildern und Geschichten nicht vorkommen? Wie wirkt es in ihrer Biografie, wenn ihnen dort, wo sie in Geschichten und Büchern vorkommen, bestimmte Rollen und Aufgaben zugeschrieben werden? 

Ich habe kürzlich in einer elften Klasse im Englischunterricht einen Vortrag der nigerianischen Schriftstellerin und Feminstin Chimamanda Ngozi Adichie angeschaut - «Die Gefahr der einen Geschichte». Darin beschreibt sie, wie sie als Achtjährige ihre erste Geschichte schrieb - «in der blonde, weiße Kinder vorkamen, die Ginger Bier tranken und über das Wetter redeten». Das achtjährige Mädchen lebte in Nigeria, hatte keine Ahnung, was Ginger Bier war und konnte sich auch nicht vorstellen, warum jemand über das Wetter sprechen würde - schien dort, wo sie aufwuchs, doch beständig die Sonne. Allerdings erinnerte sie sich daran, dass ihre eigenen Kinderbücher in England spielten und von weißen Engländer:innen handelten und so erschien es ihr folgerichtig, dass Schwarze in Geschichten nichts zu suchen hatten.

Wie schon bei der nun jahrzehntelang andauernden Diskussion über Genderformen in der Sprache, stößt auch der Vorschlag, Geschichten, Erzählstoffe und Lektüren einer kritischen Betrachtung zu unterziehen und gegebenenfalls durch diversere Beispiele zu ergänzen, nicht überall auf Verständnis und zum Teil sogar auf vehemente Ablehnung. Während ein bewusster Umgang mit unserer Sprache vermutlich von vielen als anstrengend und kraftraubend erlebt wird, so droht bei einer sensiblen Betrachtung von Erzählstoffen und Lektüren für manche Menschen so etwas wie ein «Kulturverlust». Schließlich haben uns diese Bücher und Geschichten ja auch nicht geschadet (oder?), wir haben sie liebgewonnen, sie gehören zu unserer Vergangenheit, sind ein Stück unserer Kindheit und kulturellen Identität.

Nur schade, dass diese Identität eben leider keinen Platz für «die anderen» hatte.

Geschichten und Literatur bilden eine Quelle der Weltbegegnung. Für die einen prägen sie das Bild, das sie von dieser Welt entwickeln - und für die anderen entwerfen sie eine Welt, in der offenbar für sie selbst kein Platz ist. Für die einen entsteht das Bild einer Welt, in der weiße Männer die Welt erobern - die anderen fragen sich, wo die Frauen denn waren, welche Rolle sie gespielt haben. Und ob dort denn zuvor keine Menschen gelebt haben? Was mit ihnen geschehen ist, was sie gefühlt haben? Wer ihre Geschichten erzählt?

Martyn Rawson: Entkolonialisierung ist immer harte Arbeit, denn sie bedeutet, die vergessenen, selbstverständlichen Wurzeln von Privilegien und Vorurteilen auszugraben, vor allem, wenn es sich dabei nicht um explizite, sondern um subtile, nuancierte Einstellungen und vor allem um blinde Flecken handelt. Es berührt uns in unseren tiefen Komfortzonen und das ist nie angenehm. Ob es wichtiger ist als andere Themen, die angesprochen werden müssen, muss jede/r für sich selbst und jede Schule für sich selbst entscheiden. Jemanden von außen einzuladen, ist immer ein guter Anfang, aber der erste Schritt ist, überhaupt anzuerkennen, dass es ein Problem gibt, das angegangen werden muss. Wir können die Frage auch umdrehen und uns fragen, wie wir das Bewusstsein für Rassismus schärfen und uns und unsere Schüler:innen in die Lage versetzen können, interkulturelle Fähigkeiten und Erkenntnisse zu entwickeln.

Ulrike Sievers: Magst du nochmal zusammenfassen, was aus Deiner Sicht Entkolonialisierung in einer Waldorfschule bedeutet?

Martyn Rawson: Klar - und ich weiß, der Begriff stört, aber das ist auch Absicht, denn es regt zum Nachdenken an. Also, Entkolonialisierung bedeutet, sicherzustellen, dass die Schüler:innen angemessene Möglichkeiten im Unterricht haben, sich über die dauerhaften Auswirkungen von Kolonialismus und Rassismus aus verschiedenen Perspektiven zu informieren und dabei auch die Stimmen der Kolonisierten und Unterdrückten sowie des globalen Südens zu hören. Dass sie verstehen, dass andere außereuropäische Kulturen andere Lösungen für das Zusammenleben in der Gemeinschaft, das Leben im Einklang mit der Natur und den Einsatz nachhaltiger Technologien gefunden haben. Dass sie verstehen, dass es verschiedene Arten von Erkenntnissen gibt, die gültig sind, nicht nur die moderne Wissenschaft. Dass sie angemessene Möglichkeiten haben, kulturelle Flexibilität, narratives Einfühlungsvermögen und interkulturelle Fähigkeiten zu erlernen. Dass sie lernen, dass es verschiedene Arten des Seins, verschiedene Formen der Sexualität, verschiedene Formen von Familie und Gemeinschaft gibt.

Und er bedeutet, dass die Schulleitung aktive Schritte unternimmt, um die Schule so vielfältig wie möglich zu gestalten und jeder Form von Diskriminierung, ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt, entgegenzuwirken. Die Herausforderung besteht heute darin, wie wir in einer wirklich multikulturellen post-migrantischen Gesellschaft so leben können, dass sich jede:r einzelne und jede Gruppe als derjenige gesehen, anerkannt und akzeptiert fühlt, der er oder sie sein will, und wir gleichzeitig den Interessen der Gesellschaft als Ganzes dienen können. Integration ist kein statischer Zustand, der einmal erreicht werden muss, sondern ein ständiger dynamischer Prozess des Aushandelns und Lösens von Konflikten. Die Waldorfpädagogik sollte dies zu einem ihrer Kernziele machen, um junge Menschen in die Lage zu versetzen, diese Fähigkeiten zu erlernen. Das bedeutet auch, gut über die Geschichte von Rassismus, Kolonisierung, Othering, Identitätspolitik und partizipativer Demokratie informiert zu sein und Gelegenheiten zu bekommen, selbst aktiv zu werden.

Unser Fazit lautet: Veränderung ist schmerzhaft und unbequem. Wenn wir in unseren Schulen wirklich Platz für Vielfalt machen wollen, dann müssen die, die bisher selbstverständlich den meisten Raum eingenommen haben, etwas zusammenrücken. Dann reicht es nicht, das Alte zu bewahren und ein bisschen «Vielfalt» als Verzierung hinzuzufügen. Dann ist beherzte, mutige Veränderung gefragt.

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