In Bewegung

Verstand und Phantasie

Hartmut Traub
Foto: © Charlotte Fischer

1.

»Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«1 So lautet Kants Motto der Aufklärung. Der Aufruf richtet sich an das Vernunftwesen Mensch, von seiner Fähigkeit zu denken wirklich Gebrauch zu machen. Das heißt, die bloße Möglichkeit, denken zu können, durch die Tat wirklich zu vollziehen. Aber warum sollte man die Menschen zu etwas auffordern, was sie doch eigentlich und natürlicherweise den ganzen Tag über tun? Zieht nicht pausenlos ein Strom von Gedanken, Vorstellungen und Bildern durch unsere Köpfe, so dass wir uns manchmal mehr Ruhe im Kopf, also weniger statt mehr zu denken wünschen? Das wusste Kant selbstverständlich auch. Der eigene Verstandesgebrauch, zu dem Kant Mut macht, ist deshalb offenbar etwas anderes als die mehr oder weniger unwillkürliche Flut von Gedanken und Bildern in unseren Köpfen. Denn von diesen wissen wir gar nicht so genau, ob sie unserem eigenen Verstand und eigenem Denken entspringen. Vieles, wenn nicht das meiste von dem, was uns durch den Kopf geht, ist nicht durch eigenen Verstandesgebrauch hervorgebracht, sondern medial vermittelt, durch Filme, Bücher, Zeitschriften, soziale Netzwerke. Anderes wissen wir von Freunden, von Lehrern, Experten oder aus unserem Elternhaus. Das, was wir für gewöhnlich unser Denken nennen, ist meist das Resultat des Denkens anderer, denen wir unseren Kopf sozusagen als Bühne für die Aufführung ihrer Ideen, Überzeugungen und Meinungen zur Verfügung stellen. So lebhaft die Bilder und Gedanken auch sein mögen, sie entspringen nicht der Tätigkeit unseres eigenen Verstandes. In diesem Falle ist »unser« Denken ein »blosser Anhang zu fremdem Verstande« (Fichte).2

Jedoch hat die rezeptive Auffassung, Wiederholung oder Spiegelung von fremden Gedanken, Meinungen und Vorstellungen zweifellos Vorteile. Denn einerseits dienen sie der Entlastung der eigenen Denkanstrengung. »Alle Menschen können denken, den meisten bleibt’s erspart«, soll der Misanthrop Schopenhauer gespöttelt haben. Zum Zweiten befreit uns die Übernahme vorgedachter Ideen und Meinungen von der Last ihrer Begründung oder Rechtfertigung. Sich fremden Gedanken anzuschließen ist somit ganz bequem. Kant nennt diese Haltung des Geistes allerdings die »selbstverschuldete Unmündigkeit«.3

Eigene Begriffs- und Urteilsbildung, das, was wirkliches Denken meint, ist eher anstrengend und entzieht uns zudem den Schutz, den der Verweis auf »die Anderen« als Urheber unserer Gedanken und Meinungen bietet. Die Bequemlichkeit »selbstverschuldeter Unmündigkeit« verhindert zugleich die elementare Erfahrung, uns selbst als nicht nur möglicherweise, sondern als wirklich denkende Wesen, als freie Geister oder als Ich im eigentlichen Sinne zu erleben.

Rudolf Steiners 1884 veröffentlichte Philosophie der Freiheit vertritt in ihrem Ausgangspunkt und Prinzip diesen aufklärerischen Denk-Ansatz. Weil auch seiner Ansicht nach die Erfahrung des eigenen Denkens und der Mut, sich aus dem Strom unwillkürlicher Gedanken und tradierter Vorstellungen aufzuraffen, die Grundlage für die Ausbildung einer persönlichen, existenziell bedeutsamen Ich-Identität schafft. Ein Gedanke, der auch für Steiners spätere Karma-Lehre von zentraler Bedeutung ist.

Jedoch anders als Kant, sondern eher wie Fichte und Schelling, behauptet Steiner, dass mit dem wirklich vollzogenen Denkakt ein Bewusstsein (Selbstbewusstsein) und eine Anschauung (Selbstanschauung), ja sogar ein Gefühl (Selbstgefühl) verbunden sind. Dabei ist er ebenso davon überzeugt, dass ein solches Denken kein willkürliches Phantasieren zur Folge hat, sondern, geleitet durch die Gesetze des menschlichen Verstandes und der Vernunft, zu sicheren Erkenntnissen führt.

Keine Schrift Steiners wird von ihrem Autor so oft zitiert, auf keines der Bücher, die er geschrieben hat, bezieht er sich häufiger als auf die Philosophie der Freiheit. Auch in seinen späteren Vorträgen zu Beginn des 20. Jahrhunderts empfiehlt er den Zuhörern – insbesondere auch »gläubigen« Anthroposophen und Anthroposophinnen – dringend, denken zu lernen. Was man, Steiners Empfehlung folgend, am besten an großen Philosophen üben könne, etwa an Hegel oder Spinoza. Denken lernen, in dem oben angedeuteten umfassenden Sinne, ist also auch für den »theosophischen und anthroposophischen Steiner« eine zwingende Bedingung, ohne die seine Theosophie und Anthroposophie, sein Okkultismus und seine Phänomenologie des esoterischen Bewusstseins4 nicht verstanden werden können. Im ganzen Leben, so heißt es bei ihm, muss Philosophie walten.5 Was heißt das für die Anthroposophie und die aus ihr erwachsene Waldorf-Pädagogik? Für die Anthropo-Sophie bedeutet das, dass sie sich als »Sophia«, das heißt als Weisheitslehre vom potentiell denkenden Menschen (Anthropos) aus entwickelt, dass sie ihn denkend mit sich in ein Verhältnis setzt und ihn auf diesem Wege sich selbst bis in die kognitiven, emotionalen und voluntativen Tiefen seines individuellen Wesens erforschen und erkennen lässt. Der denkende Selbsterkenntnisprozess ist dabei nicht auf das persönliche Ich beschränkt, sondern er ent­faltet sich, sozusagen konzentrisch und kommunikativ, über die Sphären sozialer, gesellschaftlicher, ökologischer und universaler Beziehungen auf alle Bereiche des Daseins.

Und was bedeutet das pädagogisch? Genauer, was bedeutet das schulpädagogisch und unterrichtsdidaktisch? Unter dem ermutigenden Appell der Aufklärung, den Gebrauch des eigenen Verstandes, Selbsterkenntnis und Mündigkeit zu fördern, bedeutet das, pädagogische Kontexte so zu gestalten, dass in ihnen konstruktive Selbsterfahrungsmöglichkeiten in einem möglichst weiten Spektrum angeboten werden. Bildungspolitische Vorgaben, kulturelle Standards und gesellschaftliche Anforderungsprofile sind nicht die primären Zielgrößen, auf die sich Bildungs- und Erziehungsprozesse ausrichten und von denen her sie sich allein legitimieren könnten. Im Vordergrund steht vielmehr ein breitgefächertes Lern- und Erfahrungsangebot, das die Bereiche musischer, kreativer, handwerklicher, sozialer, spiritueller, kognitiver, natur- und sprachwissenschaftlicher Bildungsmöglichkeit umfasst. Konsequenterweise müsste dessen didaktisches Leitprinzip die Einübung und Entwicklung der Selbst­bildung im Sinne der Ermutigung zum eigenen Ver­standesgebrauch sein.

2.

Neben dem ermutigenden aufklärerischen Appell zum eigenen Verstandesgebrauch ist ein weiterer zentraler, auch pädagogisch höchst relevanter Aspekt aus der klassischen deutschen Philosophie zu erwähnen, der für Steiners (auch schulpädagogisches) Denken sowie für die anthroposophische Praxis grundlegende Bedeutung hat. Die Rede ist von der Einbildungskraft (Phantasie), insbesondere von der produktiven Einbildungskraft. Diese gilt, im sogenannten Deutschen Idealismus, grob gesprochen, als die geistige Kraft, die Verstand und Sinnlichkeit so miteinander vermittelt, dass sie dem Materialen der Sinnlichkeit »Begrifflichkeit einbildet«, wodurch unterscheidbare und konkrete Vorstellungen (Bilder) von Gegenständen und ihren Zusammenhängen erzeugt, diese sicher erkannt oder gestaltet werden können. Im Unterschied zu den Nachbildern reproduktiver Einbildungskraft sind Ideen produktiver Einbildungskraft Vorbilder zur Gestaltung der Wirklichkeit. Diesen Gedanken finden wir auch in Steiners Philosophie der Freiheit. Moralische Phantasie (Einbildungskraft), heißt es dort, ist das Ver­mögen, »Wahrnehmungsobjekte oder eine Summe von solchen, einer moralischen Vorstellung gemäß, umbilden zu können«.6

Es ist der für Steiner nicht unbedeutende Denker und Dichter Novalis, der die im Idealismus vornehmlich erkenntnistheoretisch und moralphilosophisch ausgelegte Funktion der produktiven Einbildungskraft zur schöpferischen (poetischen) Grundkraft des (menschlichen) Geistes überhaupt aufwertet. Daraus ergibt sich die Möglichkeit der Vermittlung und Harmonisierung zwischen der unendlichen Schöpfungskraft des Geistes und ihrer künstlerischen Versinnlichung in endlichen Formen und Gestalten sinnlicher Wirklichkeit. Für die Entwicklung der Kunst im 19. Jahrhundert, die Epoche des Rationalismus, das Zeitalter des heraufziehenden Nihilismus, die Stunde der »letzten« oder »eindimensionalen Menschen« (Nietzsche/Marcuse) war der Gedanke einer universellen schöpferischen Einbildungskraft ein starker Impuls zur Revitalisierung und Ausbildung alternativer Wirklichkeitsauffassungen. Das Phantastische hatte Konjunktur. Richard Wagners musikalisch-mythische Gesamtkunstwerke, seine »Weihespiele«, die Wiederentdeckung der germanischen Sagen- und Mythenwelt usw. können als Höhepunkte dieser Entwicklung gelten.

Fragt man danach, wie die idealistische Idee produktiver Einbildungskraft in ihrer durch Novalis geprägten Auslegung auf Steiners Denken gewirkt hat, so ist etwa auf seinen 1906 gehaltenen Vortrag Theosophie in Deutschland vor hundert Jahren zu verweisen. Novalis wird dort der bis in die Antike zurückreichenden theosophisch-mystischen Unterströmung im Dichten und Denken des 19. Jahrhunderts zugeordnet, in deren Tradition sich auch Steiners Theosophie und Anthroposophie verstanden wissen will. Nicht von ungefähr enthält die Anthroposophie starke, zum Teil in Steiners Biographie begründete, künstlerische Züge – war das Goetheanum in Dornach doch ursprünglich als »neues Bayreuth in der Schweiz«,7 das heißt als Aufführungsort für Steiners eurythmische Mysterien-Dramen geplant, zu deren künstlerischer Ausstattung er selbst die Vorlagen und Choreographien geliefert hatte.

Die pädagogischen und didaktischen Folgerungen aus einer Orientierung am wunderbaren Vermögen der schöpferischen Einbildungskraft liegen mehr oder weniger auf der Hand. Wie schon Fichte, der Entdecker der über Kant hinausgehenden schöpferischen Funktion der Einbildungskraft, fordert auch Steiner – aktuell wie nie – den Schutz und die Förderung gestalterischer Phantasiebildung in der Erziehungs- und Bildungsarbeit. Das gilt, wie seine Vorträge zur Pädagogik verdeutlichen, nicht nur für Schülerinnen und Schüler, sondern insbesondere und vor allem auch für Lehrer und Lehrerinnen. Es geht um die Aufrechterhaltung der Offenheit des Geistes auch gegenüber vom Zeitgeist eher abgedrängten oder unterschätzten Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen. In diesem Sinne wird Steiner ein Zitat zugesprochen, das dieses didaktische Anliegen ganz gut zum Ausdruck bringt. »Mindestens von zwölf Standpunkten aus müsste man ein Ding betrachten, um aus der Realität zu ur­teilen.«8

Das hier angesprochene Potenzial schöpferisch-konstruk­tiver Einbildungskraft prägt seit langem pädagogische und didaktische Modelle. Es gilt keineswegs exklusiv für Steiners pädagogisches Denken. Kategorien des spielerischen, handlungsorientierten und problemlösenden Lernens gehören zum Standardrepertoire neuerer Modelle der Didaktik, etwa der Konstruktivistischen Didaktik. »Es könnte alles auch ganz anders sein« (Reich), lautet hier ein didaktischer Grundsatz. Zukunftswerkstätten und multiperspektivisches Arbeiten unter Einbeziehung kreativer Gestaltungsmöglichkeiten sind als methodische Verfahren und Prinzipien individualisierenden Lernens weitgehend anerkannt. Auch wenn sich das nur bedingt in fachlichen Lehrplänen und der Unterrichtswirklichkeit niederschlägt.

Eine an Phantasie und produktiver Ein­bildungskraft ausgerichtete Didaktik und Methodik des Unterrichts und des Schullebens insgesamt ist allerdings kein Selbstzweck. Ihre tiefer liegende gesellschafts- und kulturpolitische Bedeutung besteht darin, dass der durchaus notwendigen sachgerechten Reproduktion des Gegebenen durch die Eröffnung von Spielräumen der Phantasie alternative Bilder oder Szenarien der Wirklichkeit zur Seite gestellt werden, aus denen Vorbilder für eine phantasievolle und vor allem humanere Gestaltung individueller und gemeinschaftlicher Zukunft entwickelt werden können. Denn nicht auf den gegenwärtigen, sondern auf einen zukünftig besseren Zustand der Welt hin sollten Bildung und Erziehung ausgerichtet sein.9

Anmerkungen:

1 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Kants Werke. Akademieausgabe, Berlin, De Gruyter1968, Bd. VIII, 35.

2 Johann Gottlieb Fichte. Die Anweisung zum seligen Leben. Fichte Gesamtausgabe. Stuttgart-Bad Cannstatt, Frommann-Holzboog, Bd. I,9, 68.

3 Kant: A.a.O.

4 Gemeint ist hier die Schrift: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? Rudolf-Steiner Schriften Kritische Ausgabe (SKA), hrsg. von Christian Clement, Stuttgart–Bad Cannstatt, Holzboog-Frommann, Bd. 7.

5 Vgl.: Rudolf Steiner: Die Rätsel der Philosophie. SKA Bd. 4/1.Tb, 31.

6 Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit. SKA, Bd. 2, 205.

7 Camille Schneider: Edouard Schuré. Seine Lebensbegegnungen mit Richard Wagner und Rudolf Steiner. Freiburg i. Br., Verlag Die Kommenden, 192.

8 C. Schneider: Edouard Schuré. A.a.O., 195.

9 Vgl. Immanuel Kant: Über Pädagogik. A.a.O. Bd. IX, 447.

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